von Vorurtheilen verhüllt und sie dem Auge der Naturforscher, der Philosophen, der Politiker, der Aesthetiker entzieht. Zum schlagenden Beweise führe ich die unnatürliche Geschmacklosigkeit an, die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in allen Kreisen der Kunst und Wissenschaft an der Tagesordnung war. Die Politik, diese hohe Wis¬ senschaft, die den vollkommensten aller Organismen, den Staat, analysiren soll, wie konnte sie sich zu der Höhe dieser Bedeutung aufschwingen, da die europäischen Staaten so unendlich tief unter ihr standen und ein französischer König mit edler Drei¬ stigkeit zu behaupten sich unterstand: l'etat c'est moi. Was konnte sie anders sein zu dieser Zeit als ein trauriges Abbild dieses höfischen Ichs, das sein gepudertes Haupt aus allen Fenstern und Erkern des Staatsgebäudes heraussteckte, als eine Wissenschaft des Despotismus, der Intrigue, der Geheimnißkrämerei, als eine Satyre auf den Staat? Und die Aesthetik, die Lehre des Ge¬ schmacks, die Analyse der Schönheit, konnte sie auch nur im Entferntesten der Idee entsprechen, zu einer Zeit, wo die Natürlichkeit der menschli¬ chen Lebensäußerungen untergegangen war im steif¬ sten Zeremoniell, wo nichts sich rührte und regte, als auf den Wink pedantischer Zuchtmeister, wo man schwarze Lappen auf geschminkten Wangen
von Vorurtheilen verhuͤllt und ſie dem Auge der Naturforſcher, der Philoſophen, der Politiker, der Aeſthetiker entzieht. Zum ſchlagenden Beweiſe fuͤhre ich die unnatuͤrliche Geſchmackloſigkeit an, die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in allen Kreiſen der Kunſt und Wiſſenſchaft an der Tagesordnung war. Die Politik, dieſe hohe Wiſ¬ ſenſchaft, die den vollkommenſten aller Organismen, den Staat, analyſiren ſoll, wie konnte ſie ſich zu der Hoͤhe dieſer Bedeutung aufſchwingen, da die europaͤiſchen Staaten ſo unendlich tief unter ihr ſtanden und ein franzoͤſiſcher Koͤnig mit edler Drei¬ ſtigkeit zu behaupten ſich unterſtand: l'état c'est moi. Was konnte ſie anders ſein zu dieſer Zeit als ein trauriges Abbild dieſes hoͤfiſchen Ichs, das ſein gepudertes Haupt aus allen Fenſtern und Erkern des Staatsgebaͤudes herausſteckte, als eine Wiſſenſchaft des Despotismus, der Intrigue, der Geheimnißkraͤmerei, als eine Satyre auf den Staat? Und die Aeſthetik, die Lehre des Ge¬ ſchmacks, die Analyſe der Schoͤnheit, konnte ſie auch nur im Entfernteſten der Idee entſprechen, zu einer Zeit, wo die Natuͤrlichkeit der menſchli¬ chen Lebensaͤußerungen untergegangen war im ſteif¬ ſten Zeremoniell, wo nichts ſich ruͤhrte und regte, als auf den Wink pedantiſcher Zuchtmeiſter, wo man ſchwarze Lappen auf geſchminkten Wangen
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von Vorurtheilen verhuͤllt und ſie dem Auge der
Naturforſcher, der Philoſophen, der Politiker, der
Aeſthetiker entzieht. Zum ſchlagenden Beweiſe
fuͤhre ich die unnatuͤrliche Geſchmackloſigkeit an,
die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in
allen Kreiſen der Kunſt und Wiſſenſchaft an der
Tagesordnung war. Die Politik, dieſe hohe Wiſ¬
ſenſchaft, die den vollkommenſten aller Organismen,
den Staat, analyſiren ſoll, wie konnte ſie ſich zu
der Hoͤhe dieſer Bedeutung aufſchwingen, da die
europaͤiſchen Staaten ſo unendlich tief unter ihr
ſtanden und ein franzoͤſiſcher Koͤnig mit edler Drei¬
ſtigkeit zu behaupten ſich unterſtand: l'état c'est
moi. Was konnte ſie anders ſein zu dieſer Zeit
als ein trauriges Abbild dieſes hoͤfiſchen Ichs, das
ſein gepudertes Haupt aus allen Fenſtern und
Erkern des Staatsgebaͤudes herausſteckte, als eine
Wiſſenſchaft des Despotismus, der Intrigue, der
Geheimnißkraͤmerei, als eine Satyre auf den
Staat? Und die Aeſthetik, die Lehre des Ge¬
ſchmacks, die Analyſe der Schoͤnheit, konnte ſie
auch nur im Entfernteſten der Idee entſprechen,
zu einer Zeit, wo die Natuͤrlichkeit der menſchli¬
chen Lebensaͤußerungen untergegangen war im ſteif¬
ſten Zeremoniell, wo nichts ſich ruͤhrte und regte,
als auf den Wink pedantiſcher Zuchtmeiſter, wo
man ſchwarze Lappen auf geſchminkten Wangen
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/94>, abgerufen am 23.11.2024.
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