nungsproben zu ihren allgemeinen Sätzen sucht. Es hat dieses Wissen bald die Natur, bald den Staat und die Gesellschaft, bald die einzelnen Produktionen derselben, die Werke der Kunst, Be¬ redtsamkeit und Poesie im Auge. Es zerstört nicht das Gegebene, es erhebt sich nur über das¬ selbe, es läßt sich in freie Betrachtungen ein, es untersucht, urtheilt, prüft und vergeistigt sich den Stoff, indem es ihn geistig bearbeitet und repro¬ ducirt. Der Naturforscher untersucht den Orga¬ nismus der Pflanzenwelt, die Metamorphosen eines Gewächses, die Brechungen des Lichts, die Kry¬ stallisationen des Flüssigen und es ist überall sein höchstes Bemühen, den organischen Zusammen¬ hang und die Identität des Mannigfaltigen an einem Werke, einer Erscheinung der Natur auf¬ zufassen. So untersucht und erforscht der Politi¬ ker den Organismus des Staats, der Aesthetiker den Organismus der Kunst und die Gesetze und Bedingungen, unter denen sich die Kunstschönheit entfaltet. Zweck und Resultat alles dessen ist und bleibt das Wissen, so sehr es sich auch durch Frische und Individualität vom abstrakten und gar vom geistlosen historischen Wissen unterscheidet.
Aber auch dieses Wissen, das Kennzeichen der Bildung, das allgemeinste Erforderniß, um auf den Namen eines denkenden und gebildeten
nungsproben zu ihren allgemeinen Saͤtzen ſucht. Es hat dieſes Wiſſen bald die Natur, bald den Staat und die Geſellſchaft, bald die einzelnen Produktionen derſelben, die Werke der Kunſt, Be¬ redtſamkeit und Poeſie im Auge. Es zerſtoͤrt nicht das Gegebene, es erhebt ſich nur uͤber daſ¬ ſelbe, es laͤßt ſich in freie Betrachtungen ein, es unterſucht, urtheilt, pruͤft und vergeiſtigt ſich den Stoff, indem es ihn geiſtig bearbeitet und repro¬ ducirt. Der Naturforſcher unterſucht den Orga¬ nismus der Pflanzenwelt, die Metamorphoſen eines Gewaͤchſes, die Brechungen des Lichts, die Kry¬ ſtalliſationen des Fluͤſſigen und es iſt uͤberall ſein hoͤchſtes Bemuͤhen, den organiſchen Zuſammen¬ hang und die Identitaͤt des Mannigfaltigen an einem Werke, einer Erſcheinung der Natur auf¬ zufaſſen. So unterſucht und erforſcht der Politi¬ ker den Organismus des Staats, der Aeſthetiker den Organismus der Kunſt und die Geſetze und Bedingungen, unter denen ſich die Kunſtſchoͤnheit entfaltet. Zweck und Reſultat alles deſſen iſt und bleibt das Wiſſen, ſo ſehr es ſich auch durch Friſche und Individualitaͤt vom abſtrakten und gar vom geiſtloſen hiſtoriſchen Wiſſen unterſcheidet.
Aber auch dieſes Wiſſen, das Kennzeichen der Bildung, das allgemeinſte Erforderniß, um auf den Namen eines denkenden und gebildeten
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nungsproben zu ihren allgemeinen Saͤtzen ſucht.
Es hat dieſes Wiſſen bald die Natur, bald den
Staat und die Geſellſchaft, bald die einzelnen
Produktionen derſelben, die Werke der Kunſt, Be¬
redtſamkeit und Poeſie im Auge. Es zerſtoͤrt
nicht das Gegebene, es erhebt ſich nur uͤber daſ¬
ſelbe, es laͤßt ſich in freie Betrachtungen ein, es
unterſucht, urtheilt, pruͤft und vergeiſtigt ſich den
Stoff, indem es ihn geiſtig bearbeitet und repro¬
ducirt. Der Naturforſcher unterſucht den Orga¬
nismus der Pflanzenwelt, die Metamorphoſen eines
Gewaͤchſes, die Brechungen des Lichts, die Kry¬
ſtalliſationen des Fluͤſſigen und es iſt uͤberall ſein
hoͤchſtes Bemuͤhen, den organiſchen Zuſammen¬
hang und die Identitaͤt des Mannigfaltigen an
einem Werke, einer Erſcheinung der Natur auf¬
zufaſſen. So unterſucht und erforſcht der Politi¬
ker den Organismus des Staats, der Aeſthetiker
den Organismus der Kunſt und die Geſetze und
Bedingungen, unter denen ſich die Kunſtſchoͤnheit
entfaltet. Zweck und Reſultat alles deſſen iſt und
bleibt das Wiſſen, ſo ſehr es ſich auch durch
Friſche und Individualitaͤt vom abſtrakten und gar
vom geiſtloſen hiſtoriſchen Wiſſen unterſcheidet.
Aber auch dieſes Wiſſen, das Kennzeichen
der Bildung, das allgemeinſte Erforderniß, um
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/91>, abgerufen am 23.11.2024.
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