digen Organismus darzustellen. Kenntnisse und Wissenschaften sind nicht für sich, sind nur für den Geist vorhanden, dessen Trank und Speise sie sind. Der Geist ist kein Magazin, keine kalte, steinerne Zisterne, die den Regen des Wissens auffängt, um sich damit bis an den Rand zu füllen. Er gleicht einer Blume, die ihren Kelch den Thautropfen aufschließt und aus den Brüsten der Natur Leben und Nahrung saugt. Aufzublühen, ins Leben hin¬ einzublühen, Farben auszustrahlen, Düfte auszu¬ hauchen, das ist die Bestimmung der Menschen¬ blumen.
Wir haben uns herausstudirt aus dem Leben, wir müssen uns wieder hineinleben. So gründ¬ lich, wie wir studiren, so gründlich sollen wir le¬ ben. Deutschland war bisher nur die Universität von Europa, das Volk ein antiquarisches, ausge¬ strichen aus der Liste der Lebendigen und geschicht¬ lich Fortstrebenden. Tausend Hände rührten sich, um der Vergangenheit Geschichte zu schreiben, we¬ nige Hände, um der Zukunft eine Geschichte zu hinterlassen. Deutschland hatte nur Bibliotheken, aber kein Pantheon. Die Deutschen waren nur Zuschauer im Theater der Welt, aber hatten selbst weder Bühne noch Spieler. Sie wären stolz auf ihre Unparteilichkeit, ihre vorurtheilsfreie Anerken¬ nung und Würdigung aller Lebens- und Kraft¬
digen Organismus darzuſtellen. Kenntniſſe und Wiſſenſchaften ſind nicht fuͤr ſich, ſind nur fuͤr den Geiſt vorhanden, deſſen Trank und Speiſe ſie ſind. Der Geiſt iſt kein Magazin, keine kalte, ſteinerne Ziſterne, die den Regen des Wiſſens auffaͤngt, um ſich damit bis an den Rand zu fuͤllen. Er gleicht einer Blume, die ihren Kelch den Thautropfen aufſchließt und aus den Bruͤſten der Natur Leben und Nahrung ſaugt. Aufzubluͤhen, ins Leben hin¬ einzubluͤhen, Farben auszuſtrahlen, Duͤfte auszu¬ hauchen, das iſt die Beſtimmung der Menſchen¬ blumen.
Wir haben uns herausſtudirt aus dem Leben, wir muͤſſen uns wieder hineinleben. So gruͤnd¬ lich, wie wir ſtudiren, ſo gruͤndlich ſollen wir le¬ ben. Deutſchland war bisher nur die Univerſitaͤt von Europa, das Volk ein antiquariſches, ausge¬ ſtrichen aus der Liſte der Lebendigen und geſchicht¬ lich Fortſtrebenden. Tauſend Haͤnde ruͤhrten ſich, um der Vergangenheit Geſchichte zu ſchreiben, we¬ nige Haͤnde, um der Zukunft eine Geſchichte zu hinterlaſſen. Deutſchland hatte nur Bibliotheken, aber kein Pantheon. Die Deutſchen waren nur Zuſchauer im Theater der Welt, aber hatten ſelbſt weder Buͤhne noch Spieler. Sie waͤren ſtolz auf ihre Unparteilichkeit, ihre vorurtheilsfreie Anerken¬ nung und Wuͤrdigung aller Lebens- und Kraft¬
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digen Organismus darzuſtellen. Kenntniſſe und
Wiſſenſchaften ſind nicht fuͤr ſich, ſind nur fuͤr den
Geiſt vorhanden, deſſen Trank und Speiſe ſie ſind.
Der Geiſt iſt kein Magazin, keine kalte, ſteinerne
Ziſterne, die den Regen des Wiſſens auffaͤngt, um
ſich damit bis an den Rand zu fuͤllen. Er gleicht
einer Blume, die ihren Kelch den Thautropfen
aufſchließt und aus den Bruͤſten der Natur Leben
und Nahrung ſaugt. Aufzubluͤhen, ins Leben hin¬
einzubluͤhen, Farben auszuſtrahlen, Duͤfte auszu¬
hauchen, das iſt die Beſtimmung der Menſchen¬
blumen.
Wir haben uns herausſtudirt aus dem Leben,
wir muͤſſen uns wieder hineinleben. So gruͤnd¬
lich, wie wir ſtudiren, ſo gruͤndlich ſollen wir le¬
ben. Deutſchland war bisher nur die Univerſitaͤt
von Europa, das Volk ein antiquariſches, ausge¬
ſtrichen aus der Liſte der Lebendigen und geſchicht¬
lich Fortſtrebenden. Tauſend Haͤnde ruͤhrten ſich,
um der Vergangenheit Geſchichte zu ſchreiben, we¬
nige Haͤnde, um der Zukunft eine Geſchichte zu
hinterlaſſen. Deutſchland hatte nur Bibliotheken,
aber kein Pantheon. Die Deutſchen waren nur
Zuſchauer im Theater der Welt, aber hatten ſelbſt
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ihre Unparteilichkeit, ihre vorurtheilsfreie Anerken¬
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/88>, abgerufen am 24.11.2024.
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