Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte, Wissende? Ich meine. Aber kein griechischer Gelehrter konnte sich dermaßen verknöchern, weil Welt und Studium sich die Hand boten und die Palästra neben der Stoa sich befand. Die Wis¬ senschaft der Griechen war die Frucht ihres Le¬ bens, uns ist sie der traurige Rest desselben. Als jenes griechische Leben verfiel, als jenes schöne Herz stockte und stillstand, da ward es in der Kapsel nach Aegypten gebracht, zu Alexandrien einbalsa¬ mirt und die trockne Mumie nannte Eratosthenes Philologie. Meine Herren, als das Leben todt war, hielt die Gelehrsamkeit Leichenschau.
Hätten wir nur das Eine von den alten Griechen gelernt, das Eine, wie wir den Orga¬ nismus unsers Geistes, die Einheit unsers Lebens über Alles, alles Uebrige aber danach zu schätzen wüßten, ob es sich unserm Organismus lebendig verassimilirt.
Eine kleine Welt nennt man den Menschen und man hat Recht. Mikrokosmus könnte und sollte der Mensch sein, denn eingeschlossen sind in seinem Wesen die Elemente und die Kräfte des Alls und er ist im buchstäblichen Sinn die ganze Schöpfung, im Auszug. Alles Geschaffene ist freilich Mikrokosmus, Stern, Thier und Blume, doch in trü¬ berer Gestalt und bewußtlos. So ist es und doch für
Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte, Wiſſende? Ich meine. Aber kein griechiſcher Gelehrter konnte ſich dermaßen verknoͤchern, weil Welt und Studium ſich die Hand boten und die Palaͤſtra neben der Stoa ſich befand. Die Wiſ¬ ſenſchaft der Griechen war die Frucht ihres Le¬ bens, uns iſt ſie der traurige Reſt deſſelben. Als jenes griechiſche Leben verfiel, als jenes ſchoͤne Herz ſtockte und ſtillſtand, da ward es in der Kapſel nach Aegypten gebracht, zu Alexandrien einbalſa¬ mirt und die trockne Mumie nannte Eratoſthenes Philologie. Meine Herren, als das Leben todt war, hielt die Gelehrſamkeit Leichenſchau.
Haͤtten wir nur das Eine von den alten Griechen gelernt, das Eine, wie wir den Orga¬ nismus unſers Geiſtes, die Einheit unſers Lebens uͤber Alles, alles Uebrige aber danach zu ſchaͤtzen wuͤßten, ob es ſich unſerm Organismus lebendig veraſſimilirt.
Eine kleine Welt nennt man den Menſchen und man hat Recht. Mikrokosmus koͤnnte und ſollte der Menſch ſein, denn eingeſchloſſen ſind in ſeinem Weſen die Elemente und die Kraͤfte des Alls und er iſt im buchſtaͤblichen Sinn die ganze Schoͤpfung, im Auszug. Alles Geſchaffene iſt freilich Mikrokosmus, Stern, Thier und Blume, doch in truͤ¬ berer Geſtalt und bewußtlos. So iſt es und doch fuͤr
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Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte,
Wiſſende? Ich meine. Aber kein griechiſcher
Gelehrter konnte ſich dermaßen verknoͤchern, weil
Welt und Studium ſich die Hand boten und die
Palaͤſtra neben der Stoa ſich befand. Die Wiſ¬
ſenſchaft der Griechen war die Frucht ihres Le¬
bens, uns iſt ſie der traurige Reſt deſſelben. Als
jenes griechiſche Leben verfiel, als jenes ſchoͤne Herz
ſtockte und ſtillſtand, da ward es in der Kapſel
nach Aegypten gebracht, zu Alexandrien einbalſa¬
mirt und die trockne Mumie nannte Eratoſthenes
Philologie. Meine Herren, als das Leben
todt war, hielt die Gelehrſamkeit Leichenſchau.
Haͤtten wir nur das Eine von den alten
Griechen gelernt, das Eine, wie wir den Orga¬
nismus unſers Geiſtes, die Einheit unſers Lebens
uͤber Alles, alles Uebrige aber danach zu ſchaͤtzen
wuͤßten, ob es ſich unſerm Organismus lebendig
veraſſimilirt.
Eine kleine Welt nennt man den Menſchen
und man hat Recht. Mikrokosmus koͤnnte und
ſollte der Menſch ſein, denn eingeſchloſſen ſind in
ſeinem Weſen die Elemente und die Kraͤfte des
Alls und er iſt im buchſtaͤblichen Sinn die ganze
Schoͤpfung, im Auszug. Alles Geſchaffene iſt freilich
Mikrokosmus, Stern, Thier und Blume, doch in truͤ¬
berer Geſtalt und bewußtlos. So iſt es und doch fuͤr
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/86>, abgerufen am 24.11.2024.
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