gewöhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume der Geschichte, die blühendste Entfaltung der Völkerkraft, blüht und duftet durch alle Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem sie an¬ gehört, längst erstarrt, abgestorben, zerstreut oder ausgeartet ist. So haben wir eine Geschichte der Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Ge¬ schichte der Römer während der Karthagerkriege, eine Geschichte der lombardischen Städte, als Freiheit sie begeisterte, eine Geschichte Frankreichs unter dem siegreichen Kaiser, eine Geschichte Deutschlands -- welche die Zukunft geschehen las¬ sen und dann auch schreiben wird. In der Ge¬ schichte, hat man gesagt, gibt es großartige Epo¬ pöen; allein ich kenne keine andere Geschichte, als die sich von selbst zur großartigen epischen Dich¬ tung gestaltet, Verherrlichung eines Volkes, das sich selbst verherrlicht hat. Traum und Phanta¬ sieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeschich¬ ten gehören nicht ins goldene Buch des Lebens. So hat Tazitus, der über die unnatürlichen Kräm¬ pfe der römischen Kaiser und die fallende Sucht ihrer Unterthanen schrieb, nur einen ärztlichen Bericht, aber keine Geschichte geschrieben. Das Gemälde eines Pesthofes, wo das gelbe Fieber auf hundert verzerrten Gesichtern brennt, ist kein
gewoͤhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume der Geſchichte, die bluͤhendſte Entfaltung der Voͤlkerkraft, bluͤht und duftet durch alle Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem ſie an¬ gehoͤrt, laͤngſt erſtarrt, abgeſtorben, zerſtreut oder ausgeartet iſt. So haben wir eine Geſchichte der Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Ge¬ ſchichte der Roͤmer waͤhrend der Karthagerkriege, eine Geſchichte der lombardiſchen Staͤdte, als Freiheit ſie begeiſterte, eine Geſchichte Frankreichs unter dem ſiegreichen Kaiſer, eine Geſchichte Deutſchlands — welche die Zukunft geſchehen laſ¬ ſen und dann auch ſchreiben wird. In der Ge¬ ſchichte, hat man geſagt, gibt es großartige Epo¬ poͤen; allein ich kenne keine andere Geſchichte, als die ſich von ſelbſt zur großartigen epiſchen Dich¬ tung geſtaltet, Verherrlichung eines Volkes, das ſich ſelbſt verherrlicht hat. Traum und Phanta¬ ſieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeſchich¬ ten gehoͤren nicht ins goldene Buch des Lebens. So hat Tazitus, der uͤber die unnatuͤrlichen Kraͤm¬ pfe der roͤmiſchen Kaiſer und die fallende Sucht ihrer Unterthanen ſchrieb, nur einen aͤrztlichen Bericht, aber keine Geſchichte geſchrieben. Das Gemaͤlde eines Peſthofes, wo das gelbe Fieber auf hundert verzerrten Geſichtern brennt, iſt kein
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gewoͤhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume
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der Voͤlkerkraft, bluͤht und duftet durch alle
Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem ſie an¬
gehoͤrt, laͤngſt erſtarrt, abgeſtorben, zerſtreut oder
ausgeartet iſt. So haben wir eine Geſchichte der
Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Ge¬
ſchichte der Roͤmer waͤhrend der Karthagerkriege,
eine Geſchichte der lombardiſchen Staͤdte, als
Freiheit ſie begeiſterte, eine Geſchichte Frankreichs
unter dem ſiegreichen Kaiſer, eine Geſchichte
Deutſchlands — welche die Zukunft geſchehen laſ¬
ſen und dann auch ſchreiben wird. In der Ge¬
ſchichte, hat man geſagt, gibt es großartige Epo¬
poͤen; allein ich kenne keine andere Geſchichte, als
die ſich von ſelbſt zur großartigen epiſchen Dich¬
tung geſtaltet, Verherrlichung eines Volkes, das
ſich ſelbſt verherrlicht hat. Traum und Phanta¬
ſieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeſchich¬
ten gehoͤren nicht ins goldene Buch des Lebens.
So hat Tazitus, der uͤber die unnatuͤrlichen Kraͤm¬
pfe der roͤmiſchen Kaiſer und die fallende Sucht
ihrer Unterthanen ſchrieb, nur einen aͤrztlichen
Bericht, aber keine Geſchichte geſchrieben. Das
Gemaͤlde eines Peſthofes, wo das gelbe Fieber
auf hundert verzerrten Geſichtern brennt, iſt kein
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/60>, abgerufen am 24.11.2024.
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