Grieche, der Sohn des Südens, hat der Deut¬ sche, der Nordmann auf die Ausbildung seines Charakters hinzuarbeiten; unser Geist ist von Na¬ tur formloser, als der griechische; zwischen unthä¬ tiger Ruhe und träger Beharrung und momenta¬ ner heftiger Aufregung und aufblitzenden Leiden¬ schaften schwanken die Besseren und die Besten unter uns hin und her; die geistigsten Aeußerun¬ gen und die tiefsten Gemeinheiten vereinigen sich oft in einer und derselben Person. An Leuten, die vor Gelehrsamkeit strotzen und halb darüber platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfsinn und Spitzfindigkeit beständig auf Nadeln gehen, an überschwänglichen Poeten, an wahnsinnigen Musicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden Frömmlern, an Charakteren dieser Art, fehlt es allerdings nicht in Deutschland, allein ihre Fülle und Anzahl bestätigt eben meine Behauptung, daß man zu wenig Charakter und Ausbildung desselben unter uns antreffe. Es sind diese und ähnliche bizarre Originale (die noch dazu oft nur schlechte Kopien), lebendige Muster der charakterlosen Ein¬ seitigkeit einer zersplitterten Zeit, die sich zum wah¬ ren Charakter der Humanität in gar kein anderes Verhältniß stellen lassen, als in das der Scheuch¬ bilder einer menschlichen Gestalt zur menschlichen Gestalt selber. Daß solche und ähnliche Charak¬
Grieche, der Sohn des Suͤdens, hat der Deut¬ ſche, der Nordmann auf die Ausbildung ſeines Charakters hinzuarbeiten; unſer Geiſt iſt von Na¬ tur formloſer, als der griechiſche; zwiſchen unthaͤ¬ tiger Ruhe und traͤger Beharrung und momenta¬ ner heftiger Aufregung und aufblitzenden Leiden¬ ſchaften ſchwanken die Beſſeren und die Beſten unter uns hin und her; die geiſtigſten Aeußerun¬ gen und die tiefſten Gemeinheiten vereinigen ſich oft in einer und derſelben Perſon. An Leuten, die vor Gelehrſamkeit ſtrotzen und halb daruͤber platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfſinn und Spitzfindigkeit beſtaͤndig auf Nadeln gehen, an uͤberſchwaͤnglichen Poeten, an wahnſinnigen Muſicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden Froͤmmlern, an Charakteren dieſer Art, fehlt es allerdings nicht in Deutſchland, allein ihre Fuͤlle und Anzahl beſtaͤtigt eben meine Behauptung, daß man zu wenig Charakter und Ausbildung deſſelben unter uns antreffe. Es ſind dieſe und aͤhnliche bizarre Originale (die noch dazu oft nur ſchlechte Kopien), lebendige Muſter der charakterloſen Ein¬ ſeitigkeit einer zerſplitterten Zeit, die ſich zum wah¬ ren Charakter der Humanitaͤt in gar kein anderes Verhaͤltniß ſtellen laſſen, als in das der Scheuch¬ bilder einer menſchlichen Geſtalt zur menſchlichen Geſtalt ſelber. Daß ſolche und aͤhnliche Charak¬
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Grieche, der Sohn des Suͤdens, hat der Deut¬
ſche, der Nordmann auf die Ausbildung ſeines
Charakters hinzuarbeiten; unſer Geiſt iſt von Na¬
tur formloſer, als der griechiſche; zwiſchen unthaͤ¬
tiger Ruhe und traͤger Beharrung und momenta¬
ner heftiger Aufregung und aufblitzenden Leiden¬
ſchaften ſchwanken die Beſſeren und die Beſten
unter uns hin und her; die geiſtigſten Aeußerun¬
gen und die tiefſten Gemeinheiten vereinigen ſich
oft in einer und derſelben Perſon. An Leuten,
die vor Gelehrſamkeit ſtrotzen und halb daruͤber
platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfſinn
und Spitzfindigkeit beſtaͤndig auf Nadeln gehen,
an uͤberſchwaͤnglichen Poeten, an wahnſinnigen
Muſicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden
Froͤmmlern, an Charakteren dieſer Art, fehlt es
allerdings nicht in Deutſchland, allein ihre Fuͤlle
und Anzahl beſtaͤtigt eben meine Behauptung, daß
man zu wenig Charakter und Ausbildung deſſelben
unter uns antreffe. Es ſind dieſe und aͤhnliche
bizarre Originale (die noch dazu oft nur ſchlechte
Kopien), lebendige Muſter der charakterloſen Ein¬
ſeitigkeit einer zerſplitterten Zeit, die ſich zum wah¬
ren Charakter der Humanitaͤt in gar kein anderes
Verhaͤltniß ſtellen laſſen, als in das der Scheuch¬
bilder einer menſchlichen Geſtalt zur menſchlichen
Geſtalt ſelber. Daß ſolche und aͤhnliche Charak¬
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/28>, abgerufen am 21.11.2024.
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