Gottes Stimme walten zu lassen. Der Dichter sang nicht sich, sondern dem Volk und den Vor¬ fahren zum Ruhm und daher ward auch weniger der Dichter als das Gedicht unter dem Volk be¬ rühmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem das Nibelungenlied seine jetzige Gestalt verdankt, gänzlich unbekannt geblieben ist, und wie selbst Homer allem Vermuthen nach, erst in späterer Zeit seinen Ruf, ja seinen Namen erhalten hat.
Damit wäre nun freilich das Vorwalten des Epischen vor dem Lyrischen hinlänglich motivirt, weniger aber das Zurückstehen und das spätere Hervortreten des Dramatischen. Warum ist wie das Lyrische, so auch das Dramatische in ältester Zeit nur ein Element des Epischen, ohne selbst¬ ständige Ausbildung, als Trauerspiel oder Lustspiel? Ich antworte, weil im Epos, wie überhaupt in der ältesten Zeit die ganze ungetheilte Weltansicht vorherrscht, weil sich darin keine Kraft des Gei¬ stes isolirt, sondern Empfinden, Wissen, Handeln harmonisch zusammenwirkt. In der Lyrik ist die Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr das Leiden der Persönlichkeit überwiegend, im Epos aber tritt Beides in die gehörige Schranke zurück, in den Kreis, welcher der Erzählung gleich¬ sam durch den Stab des Rhapsoden um die Dich¬ tung gezogen wird. Das Drama sondert einen
Gottes Stimme walten zu laſſen. Der Dichter ſang nicht ſich, ſondern dem Volk und den Vor¬ fahren zum Ruhm und daher ward auch weniger der Dichter als das Gedicht unter dem Volk be¬ ruͤhmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem das Nibelungenlied ſeine jetzige Geſtalt verdankt, gaͤnzlich unbekannt geblieben iſt, und wie ſelbſt Homer allem Vermuthen nach, erſt in ſpaͤterer Zeit ſeinen Ruf, ja ſeinen Namen erhalten hat.
Damit waͤre nun freilich das Vorwalten des Epiſchen vor dem Lyriſchen hinlaͤnglich motivirt, weniger aber das Zuruͤckſtehen und das ſpaͤtere Hervortreten des Dramatiſchen. Warum iſt wie das Lyriſche, ſo auch das Dramatiſche in aͤlteſter Zeit nur ein Element des Epiſchen, ohne ſelbſt¬ ſtaͤndige Ausbildung, als Trauerſpiel oder Luſtſpiel? Ich antworte, weil im Epos, wie uͤberhaupt in der aͤlteſten Zeit die ganze ungetheilte Weltanſicht vorherrſcht, weil ſich darin keine Kraft des Gei¬ ſtes iſolirt, ſondern Empfinden, Wiſſen, Handeln harmoniſch zuſammenwirkt. In der Lyrik iſt die Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr das Leiden der Perſoͤnlichkeit uͤberwiegend, im Epos aber tritt Beides in die gehoͤrige Schranke zuruͤck, in den Kreis, welcher der Erzaͤhlung gleich¬ ſam durch den Stab des Rhapſoden um die Dich¬ tung gezogen wird. Das Drama ſondert einen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0256"n="242"/>
Gottes Stimme walten zu laſſen. Der Dichter<lb/>ſang nicht ſich, ſondern dem Volk und den Vor¬<lb/>
fahren zum Ruhm und daher ward auch weniger<lb/>
der Dichter als das Gedicht unter dem Volk be¬<lb/>
ruͤhmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem<lb/>
das Nibelungenlied ſeine jetzige Geſtalt verdankt,<lb/>
gaͤnzlich unbekannt geblieben iſt, und wie ſelbſt<lb/><hirendition="#g">Homer</hi> allem Vermuthen nach, erſt in ſpaͤterer<lb/>
Zeit ſeinen Ruf, ja ſeinen Namen erhalten hat.</p><lb/><p>Damit waͤre nun freilich das Vorwalten des<lb/>
Epiſchen vor dem Lyriſchen hinlaͤnglich motivirt,<lb/>
weniger aber das Zuruͤckſtehen und das ſpaͤtere<lb/>
Hervortreten des Dramatiſchen. Warum iſt wie<lb/>
das Lyriſche, ſo auch das Dramatiſche in aͤlteſter<lb/>
Zeit nur ein Element des Epiſchen, ohne ſelbſt¬<lb/>ſtaͤndige Ausbildung, als Trauerſpiel oder Luſtſpiel?<lb/>
Ich antworte, weil im Epos, wie uͤberhaupt in<lb/>
der aͤlteſten Zeit die ganze ungetheilte Weltanſicht<lb/>
vorherrſcht, weil ſich darin keine Kraft des Gei¬<lb/>ſtes iſolirt, ſondern Empfinden, Wiſſen, Handeln<lb/>
harmoniſch zuſammenwirkt. In der Lyrik iſt die<lb/>
Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr<lb/>
das Leiden der Perſoͤnlichkeit uͤberwiegend, im<lb/>
Epos aber tritt Beides in die gehoͤrige Schranke<lb/>
zuruͤck, in den Kreis, welcher der Erzaͤhlung gleich¬<lb/>ſam durch den Stab des Rhapſoden um die Dich¬<lb/>
tung gezogen wird. Das Drama ſondert <hirendition="#g">einen</hi><lb/></p></div></body></text></TEI>
[242/0256]
Gottes Stimme walten zu laſſen. Der Dichter
ſang nicht ſich, ſondern dem Volk und den Vor¬
fahren zum Ruhm und daher ward auch weniger
der Dichter als das Gedicht unter dem Volk be¬
ruͤhmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem
das Nibelungenlied ſeine jetzige Geſtalt verdankt,
gaͤnzlich unbekannt geblieben iſt, und wie ſelbſt
Homer allem Vermuthen nach, erſt in ſpaͤterer
Zeit ſeinen Ruf, ja ſeinen Namen erhalten hat.
Damit waͤre nun freilich das Vorwalten des
Epiſchen vor dem Lyriſchen hinlaͤnglich motivirt,
weniger aber das Zuruͤckſtehen und das ſpaͤtere
Hervortreten des Dramatiſchen. Warum iſt wie
das Lyriſche, ſo auch das Dramatiſche in aͤlteſter
Zeit nur ein Element des Epiſchen, ohne ſelbſt¬
ſtaͤndige Ausbildung, als Trauerſpiel oder Luſtſpiel?
Ich antworte, weil im Epos, wie uͤberhaupt in
der aͤlteſten Zeit die ganze ungetheilte Weltanſicht
vorherrſcht, weil ſich darin keine Kraft des Gei¬
ſtes iſolirt, ſondern Empfinden, Wiſſen, Handeln
harmoniſch zuſammenwirkt. In der Lyrik iſt die
Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr
das Leiden der Perſoͤnlichkeit uͤberwiegend, im
Epos aber tritt Beides in die gehoͤrige Schranke
zuruͤck, in den Kreis, welcher der Erzaͤhlung gleich¬
ſam durch den Stab des Rhapſoden um die Dich¬
tung gezogen wird. Das Drama ſondert einen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/256>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.