Man sieht die Vorfahren und Stammväter eines jeden Volks weit mehr, als ihre Nachfolger und Enkel, von einem gewissen einheitlichen Gefühl des Lebens durchdrungen, das sich nicht allein auf die Gegenwart erstreckt, sondern auf die Vergan¬ genheit zurückwirkt und diese mit jener in unmit¬ telbare Verbindung setzt. Bei uns ist es anders. Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus der Verbindung mit der Vorzeit heraus, sondern unterhalten eine solche mittels der Geschichte, welche uns die frühern Zustände pragmatisch-kri¬ tisch vor Augen führt. Allein es verhält sich das, was wir Geschichte nennen, zum Epos des Alter¬ thums wie ein frisch blühender Baum zu einer eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des wissenschaftlichen Naturforschers liegt; oder, es ver¬ hält sich die Kunde, welche das Alterthum von seiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche die neue Zeit von früheren Dingen nimmt, wie die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare An¬ schauung zum leblosen Bilde. Wir studiren die Geschichte aus Büchern, der Eine weiß viel, ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging, wer aber ein Wissen davon hat, hat eben auch nur ein solches Wissen, das ihm in seiner indiffe¬ renten Objectivität unendlich fern liegt vom wirk¬
Man ſieht die Vorfahren und Stammvaͤter eines jeden Volks weit mehr, als ihre Nachfolger und Enkel, von einem gewiſſen einheitlichen Gefuͤhl des Lebens durchdrungen, das ſich nicht allein auf die Gegenwart erſtreckt, ſondern auf die Vergan¬ genheit zuruͤckwirkt und dieſe mit jener in unmit¬ telbare Verbindung ſetzt. Bei uns iſt es anders. Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus der Verbindung mit der Vorzeit heraus, ſondern unterhalten eine ſolche mittels der Geſchichte, welche uns die fruͤhern Zuſtaͤnde pragmatiſch-kri¬ tiſch vor Augen fuͤhrt. Allein es verhaͤlt ſich das, was wir Geſchichte nennen, zum Epos des Alter¬ thums wie ein friſch bluͤhender Baum zu einer eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des wiſſenſchaftlichen Naturforſchers liegt; oder, es ver¬ haͤlt ſich die Kunde, welche das Alterthum von ſeiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche die neue Zeit von fruͤheren Dingen nimmt, wie die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare An¬ ſchauung zum lebloſen Bilde. Wir ſtudiren die Geſchichte aus Buͤchern, der Eine weiß viel, ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging, wer aber ein Wiſſen davon hat, hat eben auch nur ein ſolches Wiſſen, das ihm in ſeiner indiffe¬ renten Objectivitaͤt unendlich fern liegt vom wirk¬
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Man ſieht die Vorfahren und Stammvaͤter eines
jeden Volks weit mehr, als ihre Nachfolger und
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des Lebens durchdrungen, das ſich nicht allein auf
die Gegenwart erſtreckt, ſondern auf die Vergan¬
genheit zuruͤckwirkt und dieſe mit jener in unmit¬
telbare Verbindung ſetzt. Bei uns iſt es anders.
Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus
der Verbindung mit der Vorzeit heraus, ſondern
unterhalten eine ſolche mittels der Geſchichte,
welche uns die fruͤhern Zuſtaͤnde pragmatiſch-kri¬
tiſch vor Augen fuͤhrt. Allein es verhaͤlt ſich das,
was wir Geſchichte nennen, zum Epos des Alter¬
thums wie ein friſch bluͤhender Baum zu einer
eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des
wiſſenſchaftlichen Naturforſchers liegt; oder, es ver¬
haͤlt ſich die Kunde, welche das Alterthum von
ſeiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche
die neue Zeit von fruͤheren Dingen nimmt, wie
die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare An¬
ſchauung zum lebloſen Bilde. Wir ſtudiren
die Geſchichte aus Buͤchern, der Eine weiß viel,
ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor
Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging,
wer aber ein Wiſſen davon hat, hat eben auch
nur ein ſolches Wiſſen, das ihm in ſeiner indiffe¬
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/254>, abgerufen am 22.11.2024.
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