Ich will die Poesie nicht definiren, es geht ihr wie der Schönheit und allem Besten, was gott¬ lob den Definitionshäschern zu hoch liegt, aber wenn ich sage: zieht von diesem Menschen, die¬ sem Volke, dieser Zeit das ab, was ihre Religion, ihr Katechismus, ihr besonderer geschichtlicher Cha¬ rakter, ihr positiver Gehalt, ihre spezielle Weltan¬ schauung ist, so bleibt jedem Menschen, jedem Volk eine Saite, die rein menschlich oder rein göttlich tönt, eine Saite, deren Klang und Ton alle Menschen verstehen, und ständen sie auch Tau¬ sende von Jahren auseinander, das ist die Poesie. Grade diesen Gedanken, diesen Begriff der Poesie wünschte ich Ihnen recht lebhaft zur Aneignung darzustellen. Die Poesie ist die Vermittlerin aller Zeiten und Völker, die Vermittlerin aller Men¬ schen, die Dolmetscherin aller Gefühle und Be¬ strebungen, und sie ist es dadurch, daß sie unmit¬ telbar aus dem Herzen dringt, aus jener uner¬ gründlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leiden¬ schaft schläft, aus jenem Kern des menschlichen Wesens, der, wenn er verwitterte, die ganze Menschheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als ob die Poesie in ihrer Aeußerung bei diesem, je¬ nem Volke, diesem, jenem Menschen keine persön¬ lichen, volksthümlichen, charakteristischen Elemente und Beisätze enthielte -- es gibt eben so wenig
Ich will die Poeſie nicht definiren, es geht ihr wie der Schoͤnheit und allem Beſten, was gott¬ lob den Definitionshaͤſchern zu hoch liegt, aber wenn ich ſage: zieht von dieſem Menſchen, die¬ ſem Volke, dieſer Zeit das ab, was ihre Religion, ihr Katechismus, ihr beſonderer geſchichtlicher Cha¬ rakter, ihr poſitiver Gehalt, ihre ſpezielle Weltan¬ ſchauung iſt, ſo bleibt jedem Menſchen, jedem Volk eine Saite, die rein menſchlich oder rein goͤttlich toͤnt, eine Saite, deren Klang und Ton alle Menſchen verſtehen, und ſtaͤnden ſie auch Tau¬ ſende von Jahren auseinander, das iſt die Poeſie. Grade dieſen Gedanken, dieſen Begriff der Poeſie wuͤnſchte ich Ihnen recht lebhaft zur Aneignung darzuſtellen. Die Poeſie iſt die Vermittlerin aller Zeiten und Voͤlker, die Vermittlerin aller Men¬ ſchen, die Dolmetſcherin aller Gefuͤhle und Be¬ ſtrebungen, und ſie iſt es dadurch, daß ſie unmit¬ telbar aus dem Herzen dringt, aus jener uner¬ gruͤndlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leiden¬ ſchaft ſchlaͤft, aus jenem Kern des menſchlichen Weſens, der, wenn er verwitterte, die ganze Menſchheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als ob die Poeſie in ihrer Aeußerung bei dieſem, je¬ nem Volke, dieſem, jenem Menſchen keine perſoͤn¬ lichen, volksthuͤmlichen, charakteriſtiſchen Elemente und Beiſaͤtze enthielte — es gibt eben ſo wenig
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Ich will die Poeſie nicht definiren, es geht ihr
wie der Schoͤnheit und allem Beſten, was gott¬
lob den Definitionshaͤſchern zu hoch liegt, aber
wenn ich ſage: zieht von dieſem Menſchen, die¬
ſem Volke, dieſer Zeit das ab, was ihre Religion,
ihr Katechismus, ihr beſonderer geſchichtlicher Cha¬
rakter, ihr poſitiver Gehalt, ihre ſpezielle Weltan¬
ſchauung iſt, ſo bleibt jedem Menſchen, jedem Volk
eine Saite, die rein menſchlich oder rein goͤttlich
toͤnt, eine Saite, deren Klang und Ton alle
Menſchen verſtehen, und ſtaͤnden ſie auch Tau¬
ſende von Jahren auseinander, das iſt die Poeſie.
Grade dieſen Gedanken, dieſen Begriff der Poeſie
wuͤnſchte ich Ihnen recht lebhaft zur Aneignung
darzuſtellen. Die Poeſie iſt die Vermittlerin aller
Zeiten und Voͤlker, die Vermittlerin aller Men¬
ſchen, die Dolmetſcherin aller Gefuͤhle und Be¬
ſtrebungen, und ſie iſt es dadurch, daß ſie unmit¬
telbar aus dem Herzen dringt, aus jener uner¬
gruͤndlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leiden¬
ſchaft ſchlaͤft, aus jenem Kern des menſchlichen
Weſens, der, wenn er verwitterte, die ganze
Menſchheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als
ob die Poeſie in ihrer Aeußerung bei dieſem, je¬
nem Volke, dieſem, jenem Menſchen keine perſoͤn¬
lichen, volksthuͤmlichen, charakteriſtiſchen Elemente
und Beiſaͤtze enthielte — es gibt eben ſo wenig
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/245>, abgerufen am 24.11.2024.
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