nächst soll es nicht die Prosa, sondern die Poesie der neuen Zeit sein, an welche wir unsere Aesthe¬ tik zu knüpfen gedenken.
Es ist ein alter Satz, daß die Poesie älter ist, als die Prosa. Bewiese es nicht die Ge¬ schichte der Menschheit, so bewiese es die Bil¬ dungsgeschichte eines jeden Kindes, dem wir die Fibel mit gereimten Sprüchen und Sprichwörtern füllen. Mit Recht. Die Poesie gehört den Kin¬ dern, und was in uns kindlich geblieben ist, ge¬ hört der Poesie. Gebt mir eine frische Kinder¬ freude, eine Seligkeit um nichts, eine thaufrische Anschauung, einen von jenen lebhaften Eindrücken, die keine Zeit verwischt, und deren der Greis sich noch am Stabe erinnert, alles das gehört der Poesie an. Jede Empfindung gehört der Poesie an, wenn sie aus ihrem ordinairen Zustande ent¬ rückt, reiner, frischer, tiefer wird, ohne zu wis¬ sen wie, so auch jeder Gedanke, dessen Mutter nicht grade das Einmaleins oder die logische For¬ mel des Widerspruchs und des exclusi tertii ist, jeder Gedanke kann einen poetischen Körper an¬ nehmen und aus der abstrakten Luft in den grü¬ nen Garten der Poesie herabgezogen werden. Un¬ sere Dichter treiben dergleichen Geschäft als Kunst, den uralten Dichtern und den Kindern und dem Volke ist es Natur, so zu denken und zu fühlen.
naͤchſt ſoll es nicht die Proſa, ſondern die Poeſie der neuen Zeit ſein, an welche wir unſere Aeſthe¬ tik zu knuͤpfen gedenken.
Es iſt ein alter Satz, daß die Poeſie aͤlter iſt, als die Proſa. Bewieſe es nicht die Ge¬ ſchichte der Menſchheit, ſo bewieſe es die Bil¬ dungsgeſchichte eines jeden Kindes, dem wir die Fibel mit gereimten Spruͤchen und Sprichwoͤrtern fuͤllen. Mit Recht. Die Poeſie gehoͤrt den Kin¬ dern, und was in uns kindlich geblieben iſt, ge¬ hoͤrt der Poeſie. Gebt mir eine friſche Kinder¬ freude, eine Seligkeit um nichts, eine thaufriſche Anſchauung, einen von jenen lebhaften Eindruͤcken, die keine Zeit verwiſcht, und deren der Greis ſich noch am Stabe erinnert, alles das gehoͤrt der Poeſie an. Jede Empfindung gehoͤrt der Poeſie an, wenn ſie aus ihrem ordinairen Zuſtande ent¬ ruͤckt, reiner, friſcher, tiefer wird, ohne zu wiſ¬ ſen wie, ſo auch jeder Gedanke, deſſen Mutter nicht grade das Einmaleins oder die logiſche For¬ mel des Widerſpruchs und des exclusi tertii iſt, jeder Gedanke kann einen poetiſchen Koͤrper an¬ nehmen und aus der abſtrakten Luft in den gruͤ¬ nen Garten der Poeſie herabgezogen werden. Un¬ ſere Dichter treiben dergleichen Geſchaͤft als Kunſt, den uralten Dichtern und den Kindern und dem Volke iſt es Natur, ſo zu denken und zu fuͤhlen.
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naͤchſt ſoll es nicht die Proſa, ſondern die Poeſie
der neuen Zeit ſein, an welche wir unſere Aeſthe¬
tik zu knuͤpfen gedenken.
Es iſt ein alter Satz, daß die Poeſie aͤlter
iſt, als die Proſa. Bewieſe es nicht die Ge¬
ſchichte der Menſchheit, ſo bewieſe es die Bil¬
dungsgeſchichte eines jeden Kindes, dem wir die
Fibel mit gereimten Spruͤchen und Sprichwoͤrtern
fuͤllen. Mit Recht. Die Poeſie gehoͤrt den Kin¬
dern, und was in uns kindlich geblieben iſt, ge¬
hoͤrt der Poeſie. Gebt mir eine friſche Kinder¬
freude, eine Seligkeit um nichts, eine thaufriſche
Anſchauung, einen von jenen lebhaften Eindruͤcken,
die keine Zeit verwiſcht, und deren der Greis ſich
noch am Stabe erinnert, alles das gehoͤrt der
Poeſie an. Jede Empfindung gehoͤrt der Poeſie
an, wenn ſie aus ihrem ordinairen Zuſtande ent¬
ruͤckt, reiner, friſcher, tiefer wird, ohne zu wiſ¬
ſen wie, ſo auch jeder Gedanke, deſſen Mutter
nicht grade das Einmaleins oder die logiſche For¬
mel des Widerſpruchs und des exclusi tertii iſt,
jeder Gedanke kann einen poetiſchen Koͤrper an¬
nehmen und aus der abſtrakten Luft in den gruͤ¬
nen Garten der Poeſie herabgezogen werden. Un¬
ſere Dichter treiben dergleichen Geſchaͤft als Kunſt,
den uralten Dichtern und den Kindern und dem
Volke iſt es Natur, ſo zu denken und zu fuͤhlen.
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/244>, abgerufen am 25.11.2024.
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