hen Sie hier, meine Herren, den wesentlichen Unterschied zwischen dem Bildungsgange der Na¬ tur und der Kunst. Die Kunst gehört dem Reiche der Freiheit, die Natur dem Reiche der Nothwen¬ digkeit an, die Kunst kann nur wollen, und ihrem Willen gelingt das Schönste, die Natur aber, beim besten Willen, sieht sich nicht selten genö¬ thigt, durch den Schrei der nackten Existenz in¬ nerlich gezwungen, ihren auf das Schöne gerich¬ teten Willen zu brechen und zunächst nur die ärm¬ lichen Forderungen des Daseins zu erfüllen. Die ganze Organisation ist ja nur die Frucht eines Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und regellosen Kräften des Chemischen, Unorganischen, Chaotischen, das von allen Seiten auf das Orga¬ nische eindringt, tückisch auf jede Blöße lauert, welche dasselbe darbietet und dann sogleich den nagenden, zerstörenden Zahn unmittelbar auf den Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man z. B. das ganze Verdauungssystem der Thiere als einen defensiven Akt der organischen Natur betrach¬ ten, die Speisen, die wir zu uns nehmen, und die unser Magen mit so gebieterischer Regelmäßig¬ keit verlangt, sind bei weitem weniger zu unserer Ernährung, als zu unserer Vertheidigung bestimmt, wir werfen die animalischen und vegetabilischen Stoffe dem Zerstörer hin zur chemischen Zersetzung,
hen Sie hier, meine Herren, den weſentlichen Unterſchied zwiſchen dem Bildungsgange der Na¬ tur und der Kunſt. Die Kunſt gehoͤrt dem Reiche der Freiheit, die Natur dem Reiche der Nothwen¬ digkeit an, die Kunſt kann nur wollen, und ihrem Willen gelingt das Schoͤnſte, die Natur aber, beim beſten Willen, ſieht ſich nicht ſelten genoͤ¬ thigt, durch den Schrei der nackten Exiſtenz in¬ nerlich gezwungen, ihren auf das Schoͤne gerich¬ teten Willen zu brechen und zunaͤchſt nur die aͤrm¬ lichen Forderungen des Daſeins zu erfuͤllen. Die ganze Organiſation iſt ja nur die Frucht eines Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und regelloſen Kraͤften des Chemiſchen, Unorganiſchen, Chaotiſchen, das von allen Seiten auf das Orga¬ niſche eindringt, tuͤckiſch auf jede Bloͤße lauert, welche daſſelbe darbietet und dann ſogleich den nagenden, zerſtoͤrenden Zahn unmittelbar auf den Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man z. B. das ganze Verdauungsſyſtem der Thiere als einen defenſiven Akt der organiſchen Natur betrach¬ ten, die Speiſen, die wir zu uns nehmen, und die unſer Magen mit ſo gebieteriſcher Regelmaͤßig¬ keit verlangt, ſind bei weitem weniger zu unſerer Ernaͤhrung, als zu unſerer Vertheidigung beſtimmt, wir werfen die animaliſchen und vegetabiliſchen Stoffe dem Zerſtoͤrer hin zur chemiſchen Zerſetzung,
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hen Sie hier, meine Herren, den weſentlichen
Unterſchied zwiſchen dem Bildungsgange der Na¬
tur und der Kunſt. Die Kunſt gehoͤrt dem Reiche
der Freiheit, die Natur dem Reiche der Nothwen¬
digkeit an, die Kunſt kann nur wollen, und ihrem
Willen gelingt das Schoͤnſte, die Natur aber,
beim beſten Willen, ſieht ſich nicht ſelten genoͤ¬
thigt, durch den Schrei der nackten Exiſtenz in¬
nerlich gezwungen, ihren auf das Schoͤne gerich¬
teten Willen zu brechen und zunaͤchſt nur die aͤrm¬
lichen Forderungen des Daſeins zu erfuͤllen. Die
ganze Organiſation iſt ja nur die Frucht eines
Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und
regelloſen Kraͤften des Chemiſchen, Unorganiſchen,
Chaotiſchen, das von allen Seiten auf das Orga¬
niſche eindringt, tuͤckiſch auf jede Bloͤße lauert,
welche daſſelbe darbietet und dann ſogleich den
nagenden, zerſtoͤrenden Zahn unmittelbar auf den
Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man
z. B. das ganze Verdauungsſyſtem der Thiere als
einen defenſiven Akt der organiſchen Natur betrach¬
ten, die Speiſen, die wir zu uns nehmen, und
die unſer Magen mit ſo gebieteriſcher Regelmaͤßig¬
keit verlangt, ſind bei weitem weniger zu unſerer
Ernaͤhrung, als zu unſerer Vertheidigung beſtimmt,
wir werfen die animaliſchen und vegetabiliſchen
Stoffe dem Zerſtoͤrer hin zur chemiſchen Zerſetzung,
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/210>, abgerufen am 24.11.2024.
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