Weltanschauung spaltet sich nun wieder tausend¬ fach in ihrem Kreise, nach dem Naturell der Völker, der Individuen, welche sich mit ihrer Aus¬ übung beschäftigen. Hier verschmilzt sich der Volks¬ charakter mit dem Charakter des Einzelnen zu einer Kraft, der Einzelne, auch der Talentreichste und Größte bleibt immer ein Kind seiner Zeit, ein Sohn seines Volkes und als solcher steht er zwischen ihm und der Menschheit und empfängt die Aufgabe, seine Individualität geltend zu ma¬ chen, ohne weder dem rein Menschlichen, noch dem Volksthümlichen den gerechten und nothwen¬ digen Tribut zu versagen. Welche unendliche Mo¬ difikationen erleiden nun nicht Moral und Kunst durch das Gesetz des Lebens, und welche Anwen¬ dung gestatten jene abstrakten Moralien und Kunst¬ lehren dem Menschen und Künstler, der nach in¬ dividueller tüchtiger Bildung strebt und Andere nur in so fern und in dem Maaß achtet, als sie im selbigen Streben begriffen sind. Haben nicht selbst die verschiedenen Lebensalter, ganz allgemein be¬ trachtet, ihre besondere Moral und wird man vom Jüngling die Ruhe, Umsicht und Weisheit des Greises, vom Greise die Tapferkeit des Jünglings, vom Kinde die Beständigkeit des Mannes verlan¬ gen? Was will man also am Ende sagen mit der einen, absoluten Moral, die weder kalt noch
Weltanſchauung ſpaltet ſich nun wieder tauſend¬ fach in ihrem Kreiſe, nach dem Naturell der Voͤlker, der Individuen, welche ſich mit ihrer Aus¬ uͤbung beſchaͤftigen. Hier verſchmilzt ſich der Volks¬ charakter mit dem Charakter des Einzelnen zu einer Kraft, der Einzelne, auch der Talentreichſte und Groͤßte bleibt immer ein Kind ſeiner Zeit, ein Sohn ſeines Volkes und als ſolcher ſteht er zwiſchen ihm und der Menſchheit und empfaͤngt die Aufgabe, ſeine Individualitaͤt geltend zu ma¬ chen, ohne weder dem rein Menſchlichen, noch dem Volksthuͤmlichen den gerechten und nothwen¬ digen Tribut zu verſagen. Welche unendliche Mo¬ difikationen erleiden nun nicht Moral und Kunſt durch das Geſetz des Lebens, und welche Anwen¬ dung geſtatten jene abſtrakten Moralien und Kunſt¬ lehren dem Menſchen und Kuͤnſtler, der nach in¬ dividueller tuͤchtiger Bildung ſtrebt und Andere nur in ſo fern und in dem Maaß achtet, als ſie im ſelbigen Streben begriffen ſind. Haben nicht ſelbſt die verſchiedenen Lebensalter, ganz allgemein be¬ trachtet, ihre beſondere Moral und wird man vom Juͤngling die Ruhe, Umſicht und Weisheit des Greiſes, vom Greiſe die Tapferkeit des Juͤnglings, vom Kinde die Beſtaͤndigkeit des Mannes verlan¬ gen? Was will man alſo am Ende ſagen mit der einen, abſoluten Moral, die weder kalt noch
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Weltanſchauung ſpaltet ſich nun wieder tauſend¬
fach in ihrem Kreiſe, nach dem Naturell der
Voͤlker, der Individuen, welche ſich mit ihrer Aus¬
uͤbung beſchaͤftigen. Hier verſchmilzt ſich der Volks¬
charakter mit dem Charakter des Einzelnen zu
einer Kraft, der Einzelne, auch der Talentreichſte
und Groͤßte bleibt immer ein Kind ſeiner Zeit,
ein Sohn ſeines Volkes und als ſolcher ſteht er
zwiſchen ihm und der Menſchheit und empfaͤngt
die Aufgabe, ſeine Individualitaͤt geltend zu ma¬
chen, ohne weder dem rein Menſchlichen, noch
dem Volksthuͤmlichen den gerechten und nothwen¬
digen Tribut zu verſagen. Welche unendliche Mo¬
difikationen erleiden nun nicht Moral und Kunſt
durch das Geſetz des Lebens, und welche Anwen¬
dung geſtatten jene abſtrakten Moralien und Kunſt¬
lehren dem Menſchen und Kuͤnſtler, der nach in¬
dividueller tuͤchtiger Bildung ſtrebt und Andere nur
in ſo fern und in dem Maaß achtet, als ſie im
ſelbigen Streben begriffen ſind. Haben nicht ſelbſt
die verſchiedenen Lebensalter, ganz allgemein be¬
trachtet, ihre beſondere Moral und wird man vom
Juͤngling die Ruhe, Umſicht und Weisheit des
Greiſes, vom Greiſe die Tapferkeit des Juͤnglings,
vom Kinde die Beſtaͤndigkeit des Mannes verlan¬
gen? Was will man alſo am Ende ſagen mit
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/197>, abgerufen am 22.11.2024.
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