Naturen durch gegenseitigen Umtausch ihrer Ge¬ danken und persönlichen Umgang in Weimar wett¬ eifernd ihrer Ausbildung entgegenschritten. Allein seine erwähnten ästhetischen Ansichten tragen noch deutlich die Spuren geistiger Entzweiung, die aus dem Studium der Kantischen Philosophie für ihn resultirte. Er ist sich selbst nicht klar und läßt daher auch einen sehr unklaren Eindruck auf den Leser zurück. Die Bewunderung für Kant's dik¬ tatorisches und von der moralischen Seite so er¬ habenes Genie, die ihm Reinhold's Vorträge und Studium der Kantischen Kritiken eingeflößt hatte, verleitete ihn zur Annahme Kantischer Prinzipien, die, wie man sie sonst auch versteht, auslegt, bil¬ ligt oder verwirft, von Niemand so leicht als kunstförderlich oder auch nur verträglich mit den Forderungen des ästhetischen Sinnes betrachtet wer¬ den mögen. Es gibt vielleicht keinen konsequenten Kantianer gegenwärtig auf der Welt, damals aber war alle Welt Kantisch, es ging eine Seuche durch Deutschland, sich Kantisch auszudrücken und bei Dietrich in Göttingen erschien im Jahr 1801 so¬ gar eine Kantische Postlehre mit dem Titel: "Vor¬ läufige Darstellung der Begründung einer allge¬ meinen Postanstalt."
Daher findet man denn auch die meisten Handbücher der Aesthetik, die aus jener Zeit stam¬
Naturen durch gegenſeitigen Umtauſch ihrer Ge¬ danken und perſoͤnlichen Umgang in Weimar wett¬ eifernd ihrer Ausbildung entgegenſchritten. Allein ſeine erwaͤhnten aͤſthetiſchen Anſichten tragen noch deutlich die Spuren geiſtiger Entzweiung, die aus dem Studium der Kantiſchen Philoſophie fuͤr ihn reſultirte. Er iſt ſich ſelbſt nicht klar und laͤßt daher auch einen ſehr unklaren Eindruck auf den Leſer zuruͤck. Die Bewunderung fuͤr Kant's dik¬ tatoriſches und von der moraliſchen Seite ſo er¬ habenes Genie, die ihm Reinhold's Vortraͤge und Studium der Kantiſchen Kritiken eingefloͤßt hatte, verleitete ihn zur Annahme Kantiſcher Prinzipien, die, wie man ſie ſonſt auch verſteht, auslegt, bil¬ ligt oder verwirft, von Niemand ſo leicht als kunſtfoͤrderlich oder auch nur vertraͤglich mit den Forderungen des aͤſthetiſchen Sinnes betrachtet wer¬ den moͤgen. Es gibt vielleicht keinen konſequenten Kantianer gegenwaͤrtig auf der Welt, damals aber war alle Welt Kantiſch, es ging eine Seuche durch Deutſchland, ſich Kantiſch auszudruͤcken und bei Dietrich in Goͤttingen erſchien im Jahr 1801 ſo¬ gar eine Kantiſche Poſtlehre mit dem Titel: „Vor¬ laͤufige Darſtellung der Begruͤndung einer allge¬ meinen Poſtanſtalt.“
Daher findet man denn auch die meiſten Handbuͤcher der Aeſthetik, die aus jener Zeit ſtam¬
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Naturen durch gegenſeitigen Umtauſch ihrer Ge¬
danken und perſoͤnlichen Umgang in Weimar wett¬
eifernd ihrer Ausbildung entgegenſchritten. Allein
ſeine erwaͤhnten aͤſthetiſchen Anſichten tragen noch
deutlich die Spuren geiſtiger Entzweiung, die aus
dem Studium der Kantiſchen Philoſophie fuͤr ihn
reſultirte. Er iſt ſich ſelbſt nicht klar und laͤßt
daher auch einen ſehr unklaren Eindruck auf den
Leſer zuruͤck. Die Bewunderung fuͤr Kant's dik¬
tatoriſches und von der moraliſchen Seite ſo er¬
habenes Genie, die ihm Reinhold's Vortraͤge und
Studium der Kantiſchen Kritiken eingefloͤßt hatte,
verleitete ihn zur Annahme Kantiſcher Prinzipien,
die, wie man ſie ſonſt auch verſteht, auslegt, bil¬
ligt oder verwirft, von Niemand ſo leicht als
kunſtfoͤrderlich oder auch nur vertraͤglich mit den
Forderungen des aͤſthetiſchen Sinnes betrachtet wer¬
den moͤgen. Es gibt vielleicht keinen konſequenten
Kantianer gegenwaͤrtig auf der Welt, damals aber
war alle Welt Kantiſch, es ging eine Seuche durch
Deutſchland, ſich Kantiſch auszudruͤcken und bei
Dietrich in Goͤttingen erſchien im Jahr 1801 ſo¬
gar eine Kantiſche Poſtlehre mit dem Titel: „Vor¬
laͤufige Darſtellung der Begruͤndung einer allge¬
meinen Poſtanſtalt.“
Daher findet man denn auch die meiſten
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/19>, abgerufen am 22.11.2024.
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