Melodien die Luft erfüllen und das Reich der Töne in der durchgreifendsten Harmonie sich un¬ sern Ohren aufthut, schreien die stummen Disso¬ nanzen unserer Brust zum Himmel an, und, könnten sie laut werden, sie würden die Musik der Engel übertönen und die schrillendsten Mi߬ laute am Throne der Harmonie selbst laut werden lassen. Ja, die jämmerlichste Katzenmusik wäre eine solche moralische, welche wir in guter Gesell¬ schaft aufführen würden, falls durch Zauberei un¬ sere Empfindungen Trompeten-, Geigen- und Flö¬ tentöne würden. Und woher das? Weil unsere Moral kein so seines Gewissen hat, als unsere Musik, weil wir die Gewissenlosigkeit haben, die schändlichen Disharmonien der Gesellschaft, des Staatslebens, unsers eigenen, ruhig und mit ge¬ duldig langen Ohren zu ertragen.
Auch den Einwurf stelle man mir nicht ent¬ gegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunst hingegen genieße. Beide, wenn sie echt sind, thei¬ len Genuß und Entsagung und beide beruhen in Ewigkeit auf dem Grundsatz: nichts Großes kann der Mensch vollbringen, nichts Großes der Künst¬ ler gestalten, ohne seine Kräfte zu konzentriren, d. h. ohne Selbstentsagung, ohne Aufopferung, ohne Ausscheidung des Unwesentlichen, Störenden und Feindlichen. Und hier tritt nun derselbe Fall
Melodien die Luft erfuͤllen und das Reich der Toͤne in der durchgreifendſten Harmonie ſich un¬ ſern Ohren aufthut, ſchreien die ſtummen Diſſo¬ nanzen unſerer Bruſt zum Himmel an, und, koͤnnten ſie laut werden, ſie wuͤrden die Muſik der Engel uͤbertoͤnen und die ſchrillendſten Mi߬ laute am Throne der Harmonie ſelbſt laut werden laſſen. Ja, die jaͤmmerlichſte Katzenmuſik waͤre eine ſolche moraliſche, welche wir in guter Geſell¬ ſchaft auffuͤhren wuͤrden, falls durch Zauberei un¬ ſere Empfindungen Trompeten-, Geigen- und Floͤ¬ tentoͤne wuͤrden. Und woher das? Weil unſere Moral kein ſo ſeines Gewiſſen hat, als unſere Muſik, weil wir die Gewiſſenloſigkeit haben, die ſchaͤndlichen Disharmonien der Geſellſchaft, des Staatslebens, unſers eigenen, ruhig und mit ge¬ duldig langen Ohren zu ertragen.
Auch den Einwurf ſtelle man mir nicht ent¬ gegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunſt hingegen genieße. Beide, wenn ſie echt ſind, thei¬ len Genuß und Entſagung und beide beruhen in Ewigkeit auf dem Grundſatz: nichts Großes kann der Menſch vollbringen, nichts Großes der Kuͤnſt¬ ler geſtalten, ohne ſeine Kraͤfte zu konzentriren, d. h. ohne Selbſtentſagung, ohne Aufopferung, ohne Ausſcheidung des Unweſentlichen, Stoͤrenden und Feindlichen. Und hier tritt nun derſelbe Fall
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Melodien die Luft erfuͤllen und das Reich der
Toͤne in der durchgreifendſten Harmonie ſich un¬
ſern Ohren aufthut, ſchreien die ſtummen Diſſo¬
nanzen unſerer Bruſt zum Himmel an, und,
koͤnnten ſie laut werden, ſie wuͤrden die Muſik
der Engel uͤbertoͤnen und die ſchrillendſten Mi߬
laute am Throne der Harmonie ſelbſt laut werden
laſſen. Ja, die jaͤmmerlichſte Katzenmuſik waͤre
eine ſolche moraliſche, welche wir in guter Geſell¬
ſchaft auffuͤhren wuͤrden, falls durch Zauberei un¬
ſere Empfindungen Trompeten-, Geigen- und Floͤ¬
tentoͤne wuͤrden. Und woher das? Weil unſere
Moral kein ſo ſeines Gewiſſen hat, als unſere
Muſik, weil wir die Gewiſſenloſigkeit haben, die
ſchaͤndlichen Disharmonien der Geſellſchaft, des
Staatslebens, unſers eigenen, ruhig und mit ge¬
duldig langen Ohren zu ertragen.
Auch den Einwurf ſtelle man mir nicht ent¬
gegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunſt
hingegen genieße. Beide, wenn ſie echt ſind, thei¬
len Genuß und Entſagung und beide beruhen in
Ewigkeit auf dem Grundſatz: nichts Großes kann
der Menſch vollbringen, nichts Großes der Kuͤnſt¬
ler geſtalten, ohne ſeine Kraͤfte zu konzentriren,
d. h. ohne Selbſtentſagung, ohne Aufopferung,
ohne Ausſcheidung des Unweſentlichen, Stoͤrenden
und Feindlichen. Und hier tritt nun derſelbe Fall
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/186>, abgerufen am 28.11.2024.
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