sagt unter Andern Schiller in seiner Abhandlung über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen: so lange noch Möglichkeit vor¬ handen ist, daß Neigung und Pflicht in demselben Objekt des Begehrens zusammentreffen, so kann diese Repräsentation des Sittengefühls durch das Schönheitsgefühl keinen positi¬ ven Schaden anrichten; obgleich, streng genom¬ men, für die Moralität der einzelnen Handlungen dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall verändert sich gar sehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verschiedenes Interesse haben, wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Ge¬ schmack empört, oder wenn sich dieser zu einem Objekt hingezogen fühlt, das die Vernunft als moralische Richterin zu verwerfen gezwungen ist.
Jetzt nämlich tritt auf einmal die Nothwen¬ digkeit ein, die Ansprüche des moralischen und ästhetischen Sinns auseinanderzusetzen, ihre gegen¬ seitigen Befugnisse zu bestimmen und den wah¬ ren Gewalthaber im Gemüth zu erfahren. Aber eine so ununterbrochene Repräsentation hat ihn in Vergessenheit gebracht und die lange Ob¬ servanz, den Eingebungen des Geschmacks unmit¬ telbar zu gehorchen, und sich dabei wohl zu be¬ finden, müßte diesem unvermerkt den Schein eines Rechtes erwerben.
ſagt unter Andern Schiller in ſeiner Abhandlung uͤber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch ſchoͤner Formen: ſo lange noch Moͤglichkeit vor¬ handen iſt, daß Neigung und Pflicht in demſelben Objekt des Begehrens zuſammentreffen, ſo kann dieſe Repraͤſentation des Sittengefuͤhls durch das Schoͤnheitsgefuͤhl keinen poſiti¬ ven Schaden anrichten; obgleich, ſtreng genom¬ men, fuͤr die Moralitaͤt der einzelnen Handlungen dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall veraͤndert ſich gar ſehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verſchiedenes Intereſſe haben, wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Ge¬ ſchmack empoͤrt, oder wenn ſich dieſer zu einem Objekt hingezogen fuͤhlt, das die Vernunft als moraliſche Richterin zu verwerfen gezwungen iſt.
Jetzt naͤmlich tritt auf einmal die Nothwen¬ digkeit ein, die Anſpruͤche des moraliſchen und aͤſthetiſchen Sinns auseinanderzuſetzen, ihre gegen¬ ſeitigen Befugniſſe zu beſtimmen und den wah¬ ren Gewalthaber im Gemuͤth zu erfahren. Aber eine ſo ununterbrochene Repraͤſentation hat ihn in Vergeſſenheit gebracht und die lange Ob¬ ſervanz, den Eingebungen des Geſchmacks unmit¬ telbar zu gehorchen, und ſich dabei wohl zu be¬ finden, muͤßte dieſem unvermerkt den Schein eines Rechtes erwerben.
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ſagt unter Andern Schiller in ſeiner Abhandlung
uͤber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch
ſchoͤner Formen: ſo lange noch Moͤglichkeit vor¬
handen iſt, daß Neigung und Pflicht in demſelben
Objekt des Begehrens zuſammentreffen, ſo kann
dieſe Repraͤſentation des Sittengefuͤhls
durch das Schoͤnheitsgefuͤhl keinen poſiti¬
ven Schaden anrichten; obgleich, ſtreng genom¬
men, fuͤr die Moralitaͤt der einzelnen Handlungen
dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall
veraͤndert ſich gar ſehr, wenn Empfindung und
Vernunft ein verſchiedenes Intereſſe haben, wenn
die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Ge¬
ſchmack empoͤrt, oder wenn ſich dieſer zu einem
Objekt hingezogen fuͤhlt, das die Vernunft als
moraliſche Richterin zu verwerfen gezwungen iſt.
Jetzt naͤmlich tritt auf einmal die Nothwen¬
digkeit ein, die Anſpruͤche des moraliſchen und
aͤſthetiſchen Sinns auseinanderzuſetzen, ihre gegen¬
ſeitigen Befugniſſe zu beſtimmen und den wah¬
ren Gewalthaber im Gemuͤth zu erfahren.
Aber eine ſo ununterbrochene Repraͤſentation hat
ihn in Vergeſſenheit gebracht und die lange Ob¬
ſervanz, den Eingebungen des Geſchmacks unmit¬
telbar zu gehorchen, und ſich dabei wohl zu be¬
finden, muͤßte dieſem unvermerkt den Schein eines
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/170>, abgerufen am 24.11.2024.
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