Verwirklichung fordern und anstreben und nur in dieser Eintracht des Willens mit der That sehen wir poetische Lebendigkeit und poetische Wirkung. Der indische Dichter hingegen, dem es auf die That nicht ankommt, der die Harmonie zwischen Verstand und Willen, Denken und Thun nicht als das höchste Gesetz anerkennt, überläßt sich ganz naiv der vollen Absurdität der Phantasie und der träumerischen Richtung der Gefühle und erfüllt auf diese Weise das ästhetische Gesetz im Sinne seines Volks, wie er es, im Sinne der neueren Völker übertritt. Man kann sich kaum einen Be¬ griff machen von den ungeheuerlichen Schöpfun¬ gen, mit denen ein indisches Dichterhirn schwan¬ ger ging. Am Ausführlichsten und Glänzendsten ist in dieser Hinsicht die Episode des Ramajuna, dieses indischen Nationalgedichts, das sich der größesten Berühmtheit erfreut.
Verfolgen Sie nur die charakteristischen Züge, die den Umriß des Gedichts ausmachen:
Wuschista, ein Bramin, lebt in einer Einsie¬ delei, die mit Blumen, rankenden Pflanzen be¬ deckt ist, beobachtend heilige Gebräuche, umringt von Weisen, die dem Opfer und der Wiederho¬ lung des heiligen Namens (Om! Om!) ihr Leben widmen, 60,000 Weisen, entsprungen aus den Haaren und Nägeln Brahma's, alle so groß wie
Verwirklichung fordern und anſtreben und nur in dieſer Eintracht des Willens mit der That ſehen wir poetiſche Lebendigkeit und poetiſche Wirkung. Der indiſche Dichter hingegen, dem es auf die That nicht ankommt, der die Harmonie zwiſchen Verſtand und Willen, Denken und Thun nicht als das hoͤchſte Geſetz anerkennt, uͤberlaͤßt ſich ganz naiv der vollen Abſurditaͤt der Phantaſie und der traͤumeriſchen Richtung der Gefuͤhle und erfuͤllt auf dieſe Weiſe das aͤſthetiſche Geſetz im Sinne ſeines Volks, wie er es, im Sinne der neueren Voͤlker uͤbertritt. Man kann ſich kaum einen Be¬ griff machen von den ungeheuerlichen Schoͤpfun¬ gen, mit denen ein indiſches Dichterhirn ſchwan¬ ger ging. Am Ausfuͤhrlichſten und Glaͤnzendſten iſt in dieſer Hinſicht die Epiſode des Ramajuna, dieſes indiſchen Nationalgedichts, das ſich der groͤßeſten Beruͤhmtheit erfreut.
Verfolgen Sie nur die charakteriſtiſchen Zuͤge, die den Umriß des Gedichts ausmachen:
Wuſchiſta, ein Bramin, lebt in einer Einſie¬ delei, die mit Blumen, rankenden Pflanzen be¬ deckt iſt, beobachtend heilige Gebraͤuche, umringt von Weiſen, die dem Opfer und der Wiederho¬ lung des heiligen Namens (Om! Om!) ihr Leben widmen, 60,000 Weiſen, entſprungen aus den Haaren und Naͤgeln Brahma's, alle ſo groß wie
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Verwirklichung fordern und anſtreben und nur in
dieſer Eintracht des Willens mit der That ſehen
wir poetiſche Lebendigkeit und poetiſche Wirkung.
Der indiſche Dichter hingegen, dem es auf die
That nicht ankommt, der die Harmonie zwiſchen
Verſtand und Willen, Denken und Thun nicht
als das hoͤchſte Geſetz anerkennt, uͤberlaͤßt ſich ganz
naiv der vollen Abſurditaͤt der Phantaſie und der
traͤumeriſchen Richtung der Gefuͤhle und erfuͤllt
auf dieſe Weiſe das aͤſthetiſche Geſetz im Sinne
ſeines Volks, wie er es, im Sinne der neueren
Voͤlker uͤbertritt. Man kann ſich kaum einen Be¬
griff machen von den ungeheuerlichen Schoͤpfun¬
gen, mit denen ein indiſches Dichterhirn ſchwan¬
ger ging. Am Ausfuͤhrlichſten und Glaͤnzendſten
iſt in dieſer Hinſicht die Epiſode des Ramajuna,
dieſes indiſchen Nationalgedichts, das ſich der
groͤßeſten Beruͤhmtheit erfreut.
Verfolgen Sie nur die charakteriſtiſchen Zuͤge,
die den Umriß des Gedichts ausmachen:
Wuſchiſta, ein Bramin, lebt in einer Einſie¬
delei, die mit Blumen, rankenden Pflanzen be¬
deckt iſt, beobachtend heilige Gebraͤuche, umringt
von Weiſen, die dem Opfer und der Wiederho¬
lung des heiligen Namens (Om! Om!) ihr Leben
widmen, 60,000 Weiſen, entſprungen aus den
Haaren und Naͤgeln Brahma's, alle ſo groß wie
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/108>, abgerufen am 24.11.2024.
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