Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.57. Allmählich sank die süße harmonie,Gleich voll, doch schwächer stets, herunter bis zum säuseln Der sanftsten sommerluft, wenn kaum sich ie und ie Ein blat bewegt, und um der Nymfe knie Im stillen bach sich kaum die silberwellen kräuseln. Der Ritter, zwischen schlaf und wachen, höret sie Stets leiser wehn, bis unter ihrem wiegen Die sinnen unvermerkt dem schlummer unterliegen. 58. Er schlief in einem fort, bis, da der frühe hahnAurorens rosenpferde wittert, Ein wunderbarer traum sein innerstes erschüttert. Ihm deucht, er gieng auf unbekannter bahn, Am ufer eines stroms, durch schattichte gefilde; Auf einmal steht vor ihm ein göttergleiches Weib, Im großen aug des himmels reinste milde, Der liebe reiz um ihren ganzen leib. 59. Was er empfand ist nicht mit worten auszudrücken,Er, der zum erstenmal izt Amors macht empfand, Und athemlos, entgeistert vor entzücken, Sein leben ganz in seinen blicken, Im boden eingewurzelt stand; Sie noch zu sehen glaubt, nachdem sie schon verschwand, Und, da der süße wahn zulezt vor ihm zerfließet, Nichts mehr zu sehn die augen sterbend schließet. 60. Be-
57. Allmaͤhlich ſank die ſuͤße harmonie,Gleich voll, doch ſchwaͤcher ſtets, herunter bis zum ſaͤuſeln Der ſanftſten ſommerluft, wenn kaum ſich ie und ie Ein blat bewegt, und um der Nymfe knie Im ſtillen bach ſich kaum die ſilberwellen kraͤuſeln. Der Ritter, zwiſchen ſchlaf und wachen, hoͤret ſie Stets leiſer wehn, bis unter ihrem wiegen Die ſinnen unvermerkt dem ſchlummer unterliegen. 58. Er ſchlief in einem fort, bis, da der fruͤhe hahnAurorens roſenpferde wittert, Ein wunderbarer traum ſein innerſtes erſchuͤttert. Ihm deucht, er gieng auf unbekannter bahn, Am ufer eines ſtroms, durch ſchattichte gefilde; Auf einmal ſteht vor ihm ein goͤttergleiches Weib, Im großen aug des himmels reinſte milde, Der liebe reiz um ihren ganzen leib. 59. Was er empfand iſt nicht mit worten auszudruͤcken,Er, der zum erſtenmal izt Amors macht empfand, Und athemlos, entgeiſtert vor entzuͤcken, Sein leben ganz in ſeinen blicken, Im boden eingewurzelt ſtand; Sie noch zu ſehen glaubt, nachdem ſie ſchon verſchwand, Und, da der ſuͤße wahn zulezt vor ihm zerfließet, Nichts mehr zu ſehn die augen ſterbend ſchließet. 60. Be-
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57.
Allmaͤhlich ſank die ſuͤße harmonie,
Gleich voll, doch ſchwaͤcher ſtets, herunter bis zum ſaͤuſeln
Der ſanftſten ſommerluft, wenn kaum ſich ie und ie
Ein blat bewegt, und um der Nymfe knie
Im ſtillen bach ſich kaum die ſilberwellen kraͤuſeln.
Der Ritter, zwiſchen ſchlaf und wachen, hoͤret ſie
Stets leiſer wehn, bis unter ihrem wiegen
Die ſinnen unvermerkt dem ſchlummer unterliegen.
58.
Er ſchlief in einem fort, bis, da der fruͤhe hahn
Aurorens roſenpferde wittert,
Ein wunderbarer traum ſein innerſtes erſchuͤttert.
Ihm deucht, er gieng auf unbekannter bahn,
Am ufer eines ſtroms, durch ſchattichte gefilde;
Auf einmal ſteht vor ihm ein goͤttergleiches Weib,
Im großen aug des himmels reinſte milde,
Der liebe reiz um ihren ganzen leib.
59.
Was er empfand iſt nicht mit worten auszudruͤcken,
Er, der zum erſtenmal izt Amors macht empfand,
Und athemlos, entgeiſtert vor entzuͤcken,
Sein leben ganz in ſeinen blicken,
Im boden eingewurzelt ſtand;
Sie noch zu ſehen glaubt, nachdem ſie ſchon verſchwand,
Und, da der ſuͤße wahn zulezt vor ihm zerfließet,
Nichts mehr zu ſehn die augen ſterbend ſchließet.
60. Be-
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Zitationshilfe: | Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/72>, abgerufen am 29.07.2024. |