Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.51. Mit ehrfurchtbebender brust, wie vor dem GeniusDes heil'gen orts, fällt vor dem eisgrau'n Alten Amanda hin, und ehrt die dürre hand voll falten, Die er ihr freundlich reicht, mit einem frommen kuß. In unfreywilligem erguß Muß ihn ihr herz für einen Vater halten. Die furcht ist schon beym zweiten blik verbannt; Ihr ist sie hätten sich ihr lebenlang gekannt. 52. In seinem Ansehn war die angeborne Würde,Die, unverhüllbar, auch durch eine kutte scheint; Sein ofner blik war aller Wesen freund, Und schien gewohnt, wiewol der jahre bürde Den naken sanftgekrümmt, stets himmelwärts zu schau'n: Der innre friede ruht auf seinen augenbrau'n, Und wie ein fels, zu dem sich wolken nie erheben, Scheint überm erdentand die reine stirn zu schweben. 53. Den rost der welt, der leidenschaften spur,Hat längst der fluß der zeit von ihr hinweggewaschen. Fiel' eine Kron' ihm zu, und es bedürfte nur Sie mit der hand im fallen aufzuhaschen, Er strekte nicht die hand. Verschlossen der Begier, Von keiner furcht, von keinem schmerz betroffen, Ist nur dem Wahren noch die heitre seele offen, Nur offen der Natur, und reingestimmt zu ihr. 54. Al- N 2
51. Mit ehrfurchtbebender bruſt, wie vor dem GeniusDes heil'gen orts, faͤllt vor dem eisgrau'n Alten Amanda hin, und ehrt die duͤrre hand voll falten, Die er ihr freundlich reicht, mit einem frommen kuß. In unfreywilligem erguß Muß ihn ihr herz fuͤr einen Vater halten. Die furcht iſt ſchon beym zweiten blik verbannt; Ihr iſt ſie haͤtten ſich ihr lebenlang gekannt. 52. In ſeinem Anſehn war die angeborne Wuͤrde,Die, unverhuͤllbar, auch durch eine kutte ſcheint; Sein ofner blik war aller Weſen freund, Und ſchien gewohnt, wiewol der jahre buͤrde Den naken ſanftgekruͤmmt, ſtets himmelwaͤrts zu ſchau'n: Der innre friede ruht auf ſeinen augenbrau'n, Und wie ein fels, zu dem ſich wolken nie erheben, Scheint uͤberm erdentand die reine ſtirn zu ſchweben. 53. Den roſt der welt, der leidenſchaften ſpur,Hat laͤngſt der fluß der zeit von ihr hinweggewaſchen. Fiel' eine Kron' ihm zu, und es beduͤrfte nur Sie mit der hand im fallen aufzuhaſchen, Er ſtrekte nicht die hand. Verſchloſſen der Begier, Von keiner furcht, von keinem ſchmerz betroffen, Iſt nur dem Wahren noch die heitre ſeele offen, Nur offen der Natur, und reingeſtimmt zu ihr. 54. Al- N 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0201"/> <lg n="51"> <head> <hi rendition="#c">51.</hi> </head><lb/> <l><hi rendition="#in">M</hi>it ehrfurchtbebender bruſt, wie vor dem Genius</l><lb/> <l>Des heil'gen orts, faͤllt vor dem eisgrau'n Alten</l><lb/> <l>Amanda hin, und ehrt die duͤrre hand voll falten,</l><lb/> <l>Die er ihr freundlich reicht, mit einem frommen kuß.</l><lb/> <l>In unfreywilligem erguß</l><lb/> <l>Muß ihn ihr herz fuͤr einen Vater halten.</l><lb/> <l>Die furcht iſt ſchon beym zweiten blik verbannt;</l><lb/> <l>Ihr iſt ſie haͤtten ſich ihr lebenlang gekannt.</l> </lg><lb/> <lg n="52"> <head> <hi rendition="#c">52.</hi> </head><lb/> <l><hi rendition="#in">I</hi>n ſeinem Anſehn war die angeborne Wuͤrde,</l><lb/> <l>Die, unverhuͤllbar, auch durch eine kutte ſcheint;</l><lb/> <l>Sein ofner blik war aller Weſen freund,</l><lb/> <l>Und ſchien gewohnt, wiewol der jahre buͤrde</l><lb/> <l>Den naken ſanftgekruͤmmt, ſtets himmelwaͤrts zu ſchau'n:</l><lb/> <l>Der innre friede ruht auf ſeinen augenbrau'n,</l><lb/> <l>Und wie ein fels, zu dem ſich wolken nie erheben,</l><lb/> <l>Scheint uͤberm erdentand die reine ſtirn zu ſchweben.</l> </lg><lb/> <lg n="53"> <head> <hi rendition="#c">53.</hi> </head><lb/> <l><hi rendition="#in">D</hi>en roſt der welt, der leidenſchaften ſpur,</l><lb/> <l>Hat laͤngſt der fluß der zeit von ihr hinweggewaſchen.</l><lb/> <l>Fiel' eine Kron' ihm zu, und es beduͤrfte nur</l><lb/> <l>Sie mit der hand im fallen aufzuhaſchen,</l><lb/> <l>Er ſtrekte nicht die hand. Verſchloſſen der Begier,</l><lb/> <l>Von keiner furcht, von keinem ſchmerz betroffen,</l><lb/> <l>Iſt nur dem Wahren noch die heitre ſeele offen,</l><lb/> <l>Nur offen der Natur, und reingeſtimmt zu ihr.</l> </lg><lb/> <fw place="bottom" type="sig">N 2</fw> <fw place="bottom" type="catch">54. Al-</fw><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0201]
51.
Mit ehrfurchtbebender bruſt, wie vor dem Genius
Des heil'gen orts, faͤllt vor dem eisgrau'n Alten
Amanda hin, und ehrt die duͤrre hand voll falten,
Die er ihr freundlich reicht, mit einem frommen kuß.
In unfreywilligem erguß
Muß ihn ihr herz fuͤr einen Vater halten.
Die furcht iſt ſchon beym zweiten blik verbannt;
Ihr iſt ſie haͤtten ſich ihr lebenlang gekannt.
52.
In ſeinem Anſehn war die angeborne Wuͤrde,
Die, unverhuͤllbar, auch durch eine kutte ſcheint;
Sein ofner blik war aller Weſen freund,
Und ſchien gewohnt, wiewol der jahre buͤrde
Den naken ſanftgekruͤmmt, ſtets himmelwaͤrts zu ſchau'n:
Der innre friede ruht auf ſeinen augenbrau'n,
Und wie ein fels, zu dem ſich wolken nie erheben,
Scheint uͤberm erdentand die reine ſtirn zu ſchweben.
53.
Den roſt der welt, der leidenſchaften ſpur,
Hat laͤngſt der fluß der zeit von ihr hinweggewaſchen.
Fiel' eine Kron' ihm zu, und es beduͤrfte nur
Sie mit der hand im fallen aufzuhaſchen,
Er ſtrekte nicht die hand. Verſchloſſen der Begier,
Von keiner furcht, von keinem ſchmerz betroffen,
Iſt nur dem Wahren noch die heitre ſeele offen,
Nur offen der Natur, und reingeſtimmt zu ihr.
54. Al-
N 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |