Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite
12.
Allein, es kam; und ach! zu ihrem großen leide,
Ein übel kam mit ihm auf Gangolfs graues haupt,
Das seiner liebsten augenweide
Den armen Greis auf lebenslang beraubt.
Nie wird er wieder sich an ihren blicken sonnen,
Nie wieder sehn dies reizende Oval,
Wovon zu Engeln und Madonnen
So mancher maler gern die sanften züge stahl!
13.
Wer sollt' ihm nun die lange zeit vertreiben,
Dem armen blinden mann, hätt' er Rosetten nicht?
Was würd' aus ihm, wär' ihr's nicht süße pflicht,
Untrennbar tag und nacht an ihn geklebt zu bleiben,
Ihm immer arm und augenlicht
Zu leyhn, für ihn zu lesen und zu schreiben,
Zu fragen was ihm fehlt, und, quälet ihn die gicht,
Mit leichter warmer hand ihm knie und fuß zu reiben?
14.
Rosette, immer sanft, gefällig, mitleidsvoll,
Entrichtet ohne zwang und murren
Der ehstandspflicht auch diesen schweren zoll;
Aufmerksam stets (wiewohl bey seinem knurren
Ihr heimlich oft die gall' ein wenig schwoll)
Daß ja ihr Alter nichts zu klagen haben soll.
Zum unglück fieng er izt, trotz ihrem guten willen,
In seinem sorgestuhl die schlimmste aller grillen.
15. Der
I 5
12.
Allein, es kam; und ach! zu ihrem großen leide,
Ein uͤbel kam mit ihm auf Gangolfs graues haupt,
Das ſeiner liebſten augenweide
Den armen Greis auf lebenslang beraubt.
Nie wird er wieder ſich an ihren blicken ſonnen,
Nie wieder ſehn dies reizende Oval,
Wovon zu Engeln und Madonnen
So mancher maler gern die ſanften zuͤge ſtahl!
13.
Wer ſollt' ihm nun die lange zeit vertreiben,
Dem armen blinden mann, haͤtt' er Roſetten nicht?
Was wuͤrd' aus ihm, waͤr' ihr's nicht ſuͤße pflicht,
Untrennbar tag und nacht an ihn geklebt zu bleiben,
Ihm immer arm und augenlicht
Zu leyhn, fuͤr ihn zu leſen und zu ſchreiben,
Zu fragen was ihm fehlt, und, quaͤlet ihn die gicht,
Mit leichter warmer hand ihm knie und fuß zu reiben?
14.
Roſette, immer ſanft, gefaͤllig, mitleidsvoll,
Entrichtet ohne zwang und murren
Der ehſtandspflicht auch dieſen ſchweren zoll;
Aufmerkſam ſtets (wiewohl bey ſeinem knurren
Ihr heimlich oft die gall' ein wenig ſchwoll)
Daß ja ihr Alter nichts zu klagen haben ſoll.
Zum ungluͤck fieng er izt, trotz ihrem guten willen,
In ſeinem ſorgeſtuhl die ſchlimmſte aller grillen.
15. Der
I 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0143"/>
            <lg n="12">
              <head> <hi rendition="#c">12.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">A</hi>llein, es kam; und ach! zu ihrem großen leide,</l><lb/>
              <l>Ein u&#x0364;bel kam mit ihm auf Gangolfs graues haupt,</l><lb/>
              <l>Das &#x017F;einer lieb&#x017F;ten augenweide</l><lb/>
              <l>Den armen Greis auf lebenslang beraubt.</l><lb/>
              <l>Nie wird er wieder &#x017F;ich an ihren blicken &#x017F;onnen,</l><lb/>
              <l>Nie wieder &#x017F;ehn dies reizende Oval,</l><lb/>
              <l>Wovon zu Engeln und Madonnen</l><lb/>
              <l>So mancher maler gern die &#x017F;anften zu&#x0364;ge &#x017F;tahl!</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="13">
              <head> <hi rendition="#c">13.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">W</hi>er &#x017F;ollt' ihm nun die lange zeit vertreiben,</l><lb/>
              <l>Dem armen blinden mann, ha&#x0364;tt' er Ro&#x017F;etten nicht?</l><lb/>
              <l>Was wu&#x0364;rd' aus ihm, wa&#x0364;r' ihr's nicht &#x017F;u&#x0364;ße pflicht,</l><lb/>
              <l>Untrennbar tag und nacht an ihn geklebt zu bleiben,</l><lb/>
              <l>Ihm immer arm und augenlicht</l><lb/>
              <l>Zu leyhn, fu&#x0364;r ihn zu le&#x017F;en und zu &#x017F;chreiben,</l><lb/>
              <l>Zu fragen was ihm fehlt, und, qua&#x0364;let ihn die gicht,</l><lb/>
              <l>Mit leichter warmer hand ihm knie und fuß zu reiben?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="14">
              <head> <hi rendition="#c">14.</hi> </head><lb/>
              <l><hi rendition="#in">R</hi>o&#x017F;ette, immer &#x017F;anft, gefa&#x0364;llig, mitleidsvoll,</l><lb/>
              <l>Entrichtet ohne zwang und murren</l><lb/>
              <l>Der eh&#x017F;tandspflicht auch die&#x017F;en &#x017F;chweren zoll;</l><lb/>
              <l>Aufmerk&#x017F;am &#x017F;tets (wiewohl bey &#x017F;einem knurren</l><lb/>
              <l>Ihr heimlich oft die gall' ein wenig &#x017F;chwoll)</l><lb/>
              <l>Daß ja ihr Alter nichts zu klagen haben &#x017F;oll.</l><lb/>
              <l>Zum unglu&#x0364;ck fieng er izt, trotz ihrem guten willen,</l><lb/>
              <l>In &#x017F;einem &#x017F;orge&#x017F;tuhl die &#x017F;chlimm&#x017F;te aller grillen.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">I 5</fw>
            <fw place="bottom" type="catch">15. Der</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0143] 12. Allein, es kam; und ach! zu ihrem großen leide, Ein uͤbel kam mit ihm auf Gangolfs graues haupt, Das ſeiner liebſten augenweide Den armen Greis auf lebenslang beraubt. Nie wird er wieder ſich an ihren blicken ſonnen, Nie wieder ſehn dies reizende Oval, Wovon zu Engeln und Madonnen So mancher maler gern die ſanften zuͤge ſtahl! 13. Wer ſollt' ihm nun die lange zeit vertreiben, Dem armen blinden mann, haͤtt' er Roſetten nicht? Was wuͤrd' aus ihm, waͤr' ihr's nicht ſuͤße pflicht, Untrennbar tag und nacht an ihn geklebt zu bleiben, Ihm immer arm und augenlicht Zu leyhn, fuͤr ihn zu leſen und zu ſchreiben, Zu fragen was ihm fehlt, und, quaͤlet ihn die gicht, Mit leichter warmer hand ihm knie und fuß zu reiben? 14. Roſette, immer ſanft, gefaͤllig, mitleidsvoll, Entrichtet ohne zwang und murren Der ehſtandspflicht auch dieſen ſchweren zoll; Aufmerkſam ſtets (wiewohl bey ſeinem knurren Ihr heimlich oft die gall' ein wenig ſchwoll) Daß ja ihr Alter nichts zu klagen haben ſoll. Zum ungluͤck fieng er izt, trotz ihrem guten willen, In ſeinem ſorgeſtuhl die ſchlimmſte aller grillen. 15. Der I 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/143
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/143>, abgerufen am 28.11.2024.