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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, zweytes Capitel.
den Wunsch, daß er mehr als eine schöne Schimäre
seyn möchte. Aber wir gestehen, daß wir, aus erheb-
lichen Gründen, mit zunehmender Erfahrung, immer
mißtrauischer gegen die menschlichen --- und warum
also nicht gegen die übermenschlichen Tugenden werden.

Es ist wahr, wir finden in dem Leben Dions Beweise
grosser Fähigkeiten, und vorzüglich einer gewissen Er-
habenheit und Stärke des Gemüths, die man gemei-
niglich mit gröbern, weniger reizbaren Fibern und der-
jenigen Art von Temperament verbunden sieht, welches
ungesellig, ernsthaft, stolz und spröde zu machen pflegt.
An jede Art von Temperament grenzen wie man weißt,
gewisse Tugenden; und wenn es sich noch fügt, daß die
Entwiklung dieser Anlage zu demselben durch günstige
Umstände befördert wird, so ist nichts natürlichers,
als daß sich daraus ein Character bildet, der durch ge-
wisse hervorstechende Tugenden blendet, die eben darum
zu einer völligern Schönheit gelangen, weil kein inner-
licher Widerstand sich ihrem Wachstum entgegensezt.
Diese Art von Tugenden finden wir bey dem Dion in
grossem Grade: Aber ihm, oder irgend einem andern
ein Verdienst daraus machen, wäre eben so viel, als
einem Athleten die Elasticität seiner Sehnen, oder einem
gesunden blühenden Mädchen ihre gute Farbe und die
Wölbung ihres Buseus als Verdienste anrechnen, welche
ihnen ein Recht an die allgemeine Hochachtung geben soll-
ten. Ja, wenn Dion sich durch diejenige Tugenden
vorzüglich unterschieden hätte, zu denen er von Natur

nicht

Neuntes Buch, zweytes Capitel.
den Wunſch, daß er mehr als eine ſchoͤne Schimaͤre
ſeyn moͤchte. Aber wir geſtehen, daß wir, aus erheb-
lichen Gruͤnden, mit zunehmender Erfahrung, immer
mißtrauiſcher gegen die menſchlichen ‒‒‒ und warum
alſo nicht gegen die uͤbermenſchlichen Tugenden werden.

Es iſt wahr, wir finden in dem Leben Dions Beweiſe
groſſer Faͤhigkeiten, und vorzuͤglich einer gewiſſen Er-
habenheit und Staͤrke des Gemuͤths, die man gemei-
niglich mit groͤbern, weniger reizbaren Fibern und der-
jenigen Art von Temperament verbunden ſieht, welches
ungeſellig, ernſthaft, ſtolz und ſproͤde zu machen pflegt.
An jede Art von Temperament grenzen wie man weißt,
gewiſſe Tugenden; und wenn es ſich noch fuͤgt, daß die
Entwiklung dieſer Anlage zu demſelben durch guͤnſtige
Umſtaͤnde befoͤrdert wird, ſo iſt nichts natuͤrlichers,
als daß ſich daraus ein Character bildet, der durch ge-
wiſſe hervorſtechende Tugenden blendet, die eben darum
zu einer voͤlligern Schoͤnheit gelangen, weil kein inner-
licher Widerſtand ſich ihrem Wachstum entgegenſezt.
Dieſe Art von Tugenden finden wir bey dem Dion in
groſſem Grade: Aber ihm, oder irgend einem andern
ein Verdienſt daraus machen, waͤre eben ſo viel, als
einem Athleten die Elaſticitaͤt ſeiner Sehnen, oder einem
geſunden bluͤhenden Maͤdchen ihre gute Farbe und die
Woͤlbung ihres Buſeus als Verdienſte anrechnen, welche
ihnen ein Recht an die allgemeine Hochachtung geben ſoll-
ten. Ja, wenn Dion ſich durch diejenige Tugenden
vorzuͤglich unterſchieden haͤtte, zu denen er von Natur

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[93/0095] Neuntes Buch, zweytes Capitel. den Wunſch, daß er mehr als eine ſchoͤne Schimaͤre ſeyn moͤchte. Aber wir geſtehen, daß wir, aus erheb- lichen Gruͤnden, mit zunehmender Erfahrung, immer mißtrauiſcher gegen die menſchlichen ‒‒‒ und warum alſo nicht gegen die uͤbermenſchlichen Tugenden werden. Es iſt wahr, wir finden in dem Leben Dions Beweiſe groſſer Faͤhigkeiten, und vorzuͤglich einer gewiſſen Er- habenheit und Staͤrke des Gemuͤths, die man gemei- niglich mit groͤbern, weniger reizbaren Fibern und der- jenigen Art von Temperament verbunden ſieht, welches ungeſellig, ernſthaft, ſtolz und ſproͤde zu machen pflegt. An jede Art von Temperament grenzen wie man weißt, gewiſſe Tugenden; und wenn es ſich noch fuͤgt, daß die Entwiklung dieſer Anlage zu demſelben durch guͤnſtige Umſtaͤnde befoͤrdert wird, ſo iſt nichts natuͤrlichers, als daß ſich daraus ein Character bildet, der durch ge- wiſſe hervorſtechende Tugenden blendet, die eben darum zu einer voͤlligern Schoͤnheit gelangen, weil kein inner- licher Widerſtand ſich ihrem Wachstum entgegenſezt. Dieſe Art von Tugenden finden wir bey dem Dion in groſſem Grade: Aber ihm, oder irgend einem andern ein Verdienſt daraus machen, waͤre eben ſo viel, als einem Athleten die Elaſticitaͤt ſeiner Sehnen, oder einem geſunden bluͤhenden Maͤdchen ihre gute Farbe und die Woͤlbung ihres Buſeus als Verdienſte anrechnen, welche ihnen ein Recht an die allgemeine Hochachtung geben ſoll- ten. Ja, wenn Dion ſich durch diejenige Tugenden vorzuͤglich unterſchieden haͤtte, zu denen er von Natur nicht

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/95>, abgerufen am 25.11.2024.