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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
gen übersehen haben; aber man vergab ihm nicht, daß
er damit prahlte; daß er sich seinem Hang zur Fröh-
lichkeit und Wollust, biß zu den unbändigsten Ausgelas-
senheiten überließ. Daß er, von Wein und Salben
trieffend, mit dem vernachlässigten und abgematteten
Ansehen eines Menschen, der eine Winternacht durch-
schwelgt hatte, noch warm von den Umarmungen einer
Tänzerin, in die Raths-Versammlungen hüpfte, und
sich, so übel vorbereitet, doch überflüssig tauglich hielt,
(und vielleicht war ers würklich) die Angelegenheiten
Griechenlands zu besorgen, und den grauen Vätern der
Republik zu sagen, was sie zu thun hätten: Das war
es, was sie ihm nicht vergeben konnten, und was ihm
die schlimmen Händel zuzog, von denen der Wolstand
Athens und er selbst endlich die Opfer wurden.

Ueberhaubt ist es eine längst ausgemachte Sache, daß
die Griechen von der Liebe ganz andere Begriffe hatten
als die heutigen Europäer --- denn die Rede ist hier
nicht von den metaphysischen Spielwerken oder Träumen
des göttlichen Platons --- Jhre Begriffe scheinen der
Natur, und also der gesunden Vernunft näher zu kom-
men, als die unsrigen, in welchen Scythische Barbarey
und Maurische Galanterie auf die seltsamste Art mit
einander contrastieren. Sie ehrten die ehliche Freund-
schaft; aber von dieser romantischen Leidenschaft, welche
wir im eigentlichen Verstande Liebe nennen, und welche
eine ganze Folge von Romanschreibern bey unsern Nach-
baren jenseits des Rheins und bey den Engländern be-

mühet

Agathon.
gen uͤberſehen haben; aber man vergab ihm nicht, daß
er damit prahlte; daß er ſich ſeinem Hang zur Froͤh-
lichkeit und Wolluſt, biß zu den unbaͤndigſten Ausgelaſ-
ſenheiten uͤberließ. Daß er, von Wein und Salben
trieffend, mit dem vernachlaͤſſigten und abgematteten
Anſehen eines Menſchen, der eine Winternacht durch-
ſchwelgt hatte, noch warm von den Umarmungen einer
Taͤnzerin, in die Raths-Verſammlungen huͤpfte, und
ſich, ſo uͤbel vorbereitet, doch uͤberfluͤſſig tauglich hielt,
(und vielleicht war ers wuͤrklich) die Angelegenheiten
Griechenlands zu beſorgen, und den grauen Vaͤtern der
Republik zu ſagen, was ſie zu thun haͤtten: Das war
es, was ſie ihm nicht vergeben konnten, und was ihm
die ſchlimmen Haͤndel zuzog, von denen der Wolſtand
Athens und er ſelbſt endlich die Opfer wurden.

Ueberhaubt iſt es eine laͤngſt ausgemachte Sache, daß
die Griechen von der Liebe ganz andere Begriffe hatten
als die heutigen Europaͤer ‒‒‒ denn die Rede iſt hier
nicht von den metaphyſiſchen Spielwerken oder Traͤumen
des goͤttlichen Platons ‒‒‒ Jhre Begriffe ſcheinen der
Natur, und alſo der geſunden Vernunft naͤher zu kom-
men, als die unſrigen, in welchen Scythiſche Barbarey
und Mauriſche Galanterie auf die ſeltſamſte Art mit
einander contraſtieren. Sie ehrten die ehliche Freund-
ſchaft; aber von dieſer romantiſchen Leidenſchaft, welche
wir im eigentlichen Verſtande Liebe nennen, und welche
eine ganze Folge von Romanſchreibern bey unſern Nach-
baren jenſeits des Rheins und bey den Englaͤndern be-

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[74/0076] Agathon. gen uͤberſehen haben; aber man vergab ihm nicht, daß er damit prahlte; daß er ſich ſeinem Hang zur Froͤh- lichkeit und Wolluſt, biß zu den unbaͤndigſten Ausgelaſ- ſenheiten uͤberließ. Daß er, von Wein und Salben trieffend, mit dem vernachlaͤſſigten und abgematteten Anſehen eines Menſchen, der eine Winternacht durch- ſchwelgt hatte, noch warm von den Umarmungen einer Taͤnzerin, in die Raths-Verſammlungen huͤpfte, und ſich, ſo uͤbel vorbereitet, doch uͤberfluͤſſig tauglich hielt, (und vielleicht war ers wuͤrklich) die Angelegenheiten Griechenlands zu beſorgen, und den grauen Vaͤtern der Republik zu ſagen, was ſie zu thun haͤtten: Das war es, was ſie ihm nicht vergeben konnten, und was ihm die ſchlimmen Haͤndel zuzog, von denen der Wolſtand Athens und er ſelbſt endlich die Opfer wurden. Ueberhaubt iſt es eine laͤngſt ausgemachte Sache, daß die Griechen von der Liebe ganz andere Begriffe hatten als die heutigen Europaͤer ‒‒‒ denn die Rede iſt hier nicht von den metaphyſiſchen Spielwerken oder Traͤumen des goͤttlichen Platons ‒‒‒ Jhre Begriffe ſcheinen der Natur, und alſo der geſunden Vernunft naͤher zu kom- men, als die unſrigen, in welchen Scythiſche Barbarey und Mauriſche Galanterie auf die ſeltſamſte Art mit einander contraſtieren. Sie ehrten die ehliche Freund- ſchaft; aber von dieſer romantiſchen Leidenſchaft, welche wir im eigentlichen Verſtande Liebe nennen, und welche eine ganze Folge von Romanſchreibern bey unſern Nach- baren jenſeits des Rheins und bey den Englaͤndern be- muͤhet

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/76>, abgerufen am 25.11.2024.