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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, siebentes Capitel.
die Nacht mit einer Tänzerin oder Flötenspielerin zu-
bringen, ohne sich deßwegen einen Vorwurf zu zuziehen,
in so ferne nur die Pflichten seines Standes nicht dar-
unter leiden mußten, und eine gewisse Mässigung beob-
achtet wurde, welche nach den Begriffen dieser Heyden,
die wahre Grenzlinie der Tugend und des Lasters aus-
machte. Wenn man dem Alcibiades übel genommen
hatte, daß er sich im Schoos der schönen Nemea, als
wie vom Siege ausruhend, mahlen ließ, oder daß er
den Liebesgott mit Jupiters Blizen bewafnet in seinem
Schilde führte; (und Plutarch sagt uns, daß nur die
ältesten und ernsthaftesten Athenienser sich darüber auf-
gehalten; Leute, deren Eifer öfters nicht sowol von der
Liebe der Tugend gegen die Thorheiten der Jugend ge-
wafnet wird, als von dem verdrießlichen Umstand,
beym Anblik derselben zu gleicher Zeit, wie weit sie von
ihrer eignen Jugend entfernt und wie nahe sie dem
Grabe sind, erinnert zu werden): Wenn man, sage
ich, dem Alcibiades diese Ausschweiffungen übel nahm,
so war es nicht sein Hang zu den Ergözungen oder seine
Vertraulichkeit mit einer Person, welche durch Stand
und Profession, wie so viel andre, allein dem Vergnü-
gen des Publici gewidmet war; sondern der Uebermuth,
der daraus hervorleuchtete, die Verachtung der Geseze
des Wohlstandes, und einer gewissen Gravität, welche
man in freyen Staaten mit Recht gewohnt ist von den
Vorstehern der Republik, wenigstens ausserhalb dem
Cirkel des Privatlebens, zu fodern. Man würde ihm,
wie andern, seine Schwachheiten, oder seine Ergözun-

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Achtes Buch, ſiebentes Capitel.
die Nacht mit einer Taͤnzerin oder Floͤtenſpielerin zu-
bringen, ohne ſich deßwegen einen Vorwurf zu zuziehen,
in ſo ferne nur die Pflichten ſeines Standes nicht dar-
unter leiden mußten, und eine gewiſſe Maͤſſigung beob-
achtet wurde, welche nach den Begriffen dieſer Heyden,
die wahre Grenzlinie der Tugend und des Laſters aus-
machte. Wenn man dem Alcibiades uͤbel genommen
hatte, daß er ſich im Schoos der ſchoͤnen Nemea, als
wie vom Siege ausruhend, mahlen ließ, oder daß er
den Liebesgott mit Jupiters Blizen bewafnet in ſeinem
Schilde fuͤhrte; (und Plutarch ſagt uns, daß nur die
aͤlteſten und ernſthafteſten Athenienſer ſich daruͤber auf-
gehalten; Leute, deren Eifer oͤfters nicht ſowol von der
Liebe der Tugend gegen die Thorheiten der Jugend ge-
wafnet wird, als von dem verdrießlichen Umſtand,
beym Anblik derſelben zu gleicher Zeit, wie weit ſie von
ihrer eignen Jugend entfernt und wie nahe ſie dem
Grabe ſind, erinnert zu werden): Wenn man, ſage
ich, dem Alcibiades dieſe Ausſchweiffungen uͤbel nahm,
ſo war es nicht ſein Hang zu den Ergoͤzungen oder ſeine
Vertraulichkeit mit einer Perſon, welche durch Stand
und Profeſſion, wie ſo viel andre, allein dem Vergnuͤ-
gen des Publici gewidmet war; ſondern der Uebermuth,
der daraus hervorleuchtete, die Verachtung der Geſeze
des Wohlſtandes, und einer gewiſſen Gravitaͤt, welche
man in freyen Staaten mit Recht gewohnt iſt von den
Vorſtehern der Republik, wenigſtens auſſerhalb dem
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[73/0075] Achtes Buch, ſiebentes Capitel. die Nacht mit einer Taͤnzerin oder Floͤtenſpielerin zu- bringen, ohne ſich deßwegen einen Vorwurf zu zuziehen, in ſo ferne nur die Pflichten ſeines Standes nicht dar- unter leiden mußten, und eine gewiſſe Maͤſſigung beob- achtet wurde, welche nach den Begriffen dieſer Heyden, die wahre Grenzlinie der Tugend und des Laſters aus- machte. Wenn man dem Alcibiades uͤbel genommen hatte, daß er ſich im Schoos der ſchoͤnen Nemea, als wie vom Siege ausruhend, mahlen ließ, oder daß er den Liebesgott mit Jupiters Blizen bewafnet in ſeinem Schilde fuͤhrte; (und Plutarch ſagt uns, daß nur die aͤlteſten und ernſthafteſten Athenienſer ſich daruͤber auf- gehalten; Leute, deren Eifer oͤfters nicht ſowol von der Liebe der Tugend gegen die Thorheiten der Jugend ge- wafnet wird, als von dem verdrießlichen Umſtand, beym Anblik derſelben zu gleicher Zeit, wie weit ſie von ihrer eignen Jugend entfernt und wie nahe ſie dem Grabe ſind, erinnert zu werden): Wenn man, ſage ich, dem Alcibiades dieſe Ausſchweiffungen uͤbel nahm, ſo war es nicht ſein Hang zu den Ergoͤzungen oder ſeine Vertraulichkeit mit einer Perſon, welche durch Stand und Profeſſion, wie ſo viel andre, allein dem Vergnuͤ- gen des Publici gewidmet war; ſondern der Uebermuth, der daraus hervorleuchtete, die Verachtung der Geſeze des Wohlſtandes, und einer gewiſſen Gravitaͤt, welche man in freyen Staaten mit Recht gewohnt iſt von den Vorſtehern der Republik, wenigſtens auſſerhalb dem Cirkel des Privatlebens, zu fodern. Man wuͤrde ihm, wie andern, ſeine Schwachheiten, oder ſeine Ergoͤzun- gen E 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/75>, abgerufen am 22.11.2024.