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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, erstes Capitel.
ihrem Character gewürkt hatte. Je mehr Agathon
gewann, je mehr mußte Hippias verliehren. Allein
das war so natürlich und kam so unvermerkt, daß sie
sich dessen kaum, oder nur sehr undeutlich bewußt war;
und vielleicht so wenig, daß sie, ohne die mindeste Be-
sorgniß, er werde tiefer in ihr Herz hineinschauen als
sie selbst, an nichts weniger dachte, als einige Vorsich-
tigkeit gegen ihn zu gebrauchen. Ein Beweis hievon
ist, daß sie, anstatt ihm bey ihrem Liebhaber schlimme
Dienste zu thun, sich vielmehr bey jedem Anlas bemühete,
ihn bey demselben in bessere Achtung zu sezen. Und die-
ses war ihr auch, bey der besondern Sorgfalt, womit
der Sophist seit einiger Zeit ihre Bemühung beförderte,
so wol gelungen, daß Agathon anfieng eine bessere Mey-
nung von seinem Character zu fassen, und sich unver-
merkt so viel Vertrauen von ihm abgewinnen ließ, daß
er kein Bedenken mehr trug, sich so gar über die An-
gelegenheiten seines Herzens in vertrauliche Unterredun-
gen mit ihm einzulassen.

Unsre Liebende verliefen sich also mit der sorglosesten
Unvorsichtigkeit, welche sich Hippias nur wünschen
konnte, in die Fallstrike die er ihnen legte; und liessen
sich nicht einfallen, daß er Absichten haben könne, eine
Verbindung wieder zu vernichten, die gewissermassen
sein eigenes Werk war. Diese Sorglosigkeit könnte viel-
leicht desto tadelhafter scheinen, da beyden so wol be-
kannt war, nach was für Grundsäzen er lebte. Allein

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Achtes Buch, erſtes Capitel.
ihrem Character gewuͤrkt hatte. Je mehr Agathon
gewann, je mehr mußte Hippias verliehren. Allein
das war ſo natuͤrlich und kam ſo unvermerkt, daß ſie
ſich deſſen kaum, oder nur ſehr undeutlich bewußt war;
und vielleicht ſo wenig, daß ſie, ohne die mindeſte Be-
ſorgniß, er werde tiefer in ihr Herz hineinſchauen als
ſie ſelbſt, an nichts weniger dachte, als einige Vorſich-
tigkeit gegen ihn zu gebrauchen. Ein Beweis hievon
iſt, daß ſie, anſtatt ihm bey ihrem Liebhaber ſchlimme
Dienſte zu thun, ſich vielmehr bey jedem Anlas bemuͤhete,
ihn bey demſelben in beſſere Achtung zu ſezen. Und die-
ſes war ihr auch, bey der beſondern Sorgfalt, womit
der Sophiſt ſeit einiger Zeit ihre Bemuͤhung befoͤrderte,
ſo wol gelungen, daß Agathon anfieng eine beſſere Mey-
nung von ſeinem Character zu faſſen, und ſich unver-
merkt ſo viel Vertrauen von ihm abgewinnen ließ, daß
er kein Bedenken mehr trug, ſich ſo gar uͤber die An-
gelegenheiten ſeines Herzens in vertrauliche Unterredun-
gen mit ihm einzulaſſen.

Unſre Liebende verliefen ſich alſo mit der ſorgloſeſten
Unvorſichtigkeit, welche ſich Hippias nur wuͤnſchen
konnte, in die Fallſtrike die er ihnen legte; und lieſſen
ſich nicht einfallen, daß er Abſichten haben koͤnne, eine
Verbindung wieder zu vernichten, die gewiſſermaſſen
ſein eigenes Werk war. Dieſe Sorgloſigkeit koͤnnte viel-
leicht deſto tadelhafter ſcheinen, da beyden ſo wol be-
kannt war, nach was fuͤr Grundſaͤzen er lebte. Allein

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[5/0007] Achtes Buch, erſtes Capitel. ihrem Character gewuͤrkt hatte. Je mehr Agathon gewann, je mehr mußte Hippias verliehren. Allein das war ſo natuͤrlich und kam ſo unvermerkt, daß ſie ſich deſſen kaum, oder nur ſehr undeutlich bewußt war; und vielleicht ſo wenig, daß ſie, ohne die mindeſte Be- ſorgniß, er werde tiefer in ihr Herz hineinſchauen als ſie ſelbſt, an nichts weniger dachte, als einige Vorſich- tigkeit gegen ihn zu gebrauchen. Ein Beweis hievon iſt, daß ſie, anſtatt ihm bey ihrem Liebhaber ſchlimme Dienſte zu thun, ſich vielmehr bey jedem Anlas bemuͤhete, ihn bey demſelben in beſſere Achtung zu ſezen. Und die- ſes war ihr auch, bey der beſondern Sorgfalt, womit der Sophiſt ſeit einiger Zeit ihre Bemuͤhung befoͤrderte, ſo wol gelungen, daß Agathon anfieng eine beſſere Mey- nung von ſeinem Character zu faſſen, und ſich unver- merkt ſo viel Vertrauen von ihm abgewinnen ließ, daß er kein Bedenken mehr trug, ſich ſo gar uͤber die An- gelegenheiten ſeines Herzens in vertrauliche Unterredun- gen mit ihm einzulaſſen. Unſre Liebende verliefen ſich alſo mit der ſorgloſeſten Unvorſichtigkeit, welche ſich Hippias nur wuͤnſchen konnte, in die Fallſtrike die er ihnen legte; und lieſſen ſich nicht einfallen, daß er Abſichten haben koͤnne, eine Verbindung wieder zu vernichten, die gewiſſermaſſen ſein eigenes Werk war. Dieſe Sorgloſigkeit koͤnnte viel- leicht deſto tadelhafter ſcheinen, da beyden ſo wol be- kannt war, nach was fuͤr Grundſaͤzen er lebte. Allein es A 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/7>, abgerufen am 21.11.2024.