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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Achtes Buch, fünftes Capitel.
neuem, als ein im Ocean der Welt herumtreibender
Verbannter, den Zufällen einer ungewissen Zukunft aus-
zusezen. Dieser lezte Gedanke machte ihn stuzen; aber
er wurde bald von andern Vorstellungen verdrängt,
die sein gefühlvolles Herz weit stärker rührten als alles
was ihn allein und unmittelbar angieng. Er sezte sich
an die Stelle der Danae. Er mahlte sich ihren Schmerz
vor, wenn sie bey ihrer Wiederkunft seine Flucht er-
fahren würde. Sie hatte ihn so zärtlich geliebt! --
Alles Böse, was ihm Hippias von ihr gesagt, alles
was er selbst hinzugedacht hatte, konnte in diesem Augen-
blik die Stimme des Gefühls nicht übertäuben, wel-
ches ihn überzeugte, daß er wahrhaftig geliebt worden
war. Wenn die Grösse unsrer Liebe das natürliche
Maß unsrer Schmerzen über den Verlust des Geliebten
ist, wie unglüklich mußte sie werden! Das Mitleiden,
welches diese Vorstellung in ihm erregte, machte sie wie-
der zu einem interessanten Gegenstand für sein Herz.
Jhr Bild stellte sich ihm wieder mit allen den Reizun-
gen dar, deren zauberische Gewalt er so oft erfahren
hatte. Was für Erinnerungen! Er konnte sich nicht
erwehren, ihnen etliche Augenblike nach zuhängen; und
fühlte immer weniger Kraft, sich wieder von ihnen loß-
zureissen. Seine schon halb überwundene Seele wider-
stand noch, aber immer schwächer. Amor, um desto
gewisser zu siegen, verbarg sich unter die rührende Ge-
stalt des Mitleidens, der Großmuth, der Dankbar-
keit -- Wie? er sollte eine so inbrünstige Liebe

mit
[Agath. II. Th.] D

Achtes Buch, fuͤnftes Capitel.
neuem, als ein im Ocean der Welt herumtreibender
Verbannter, den Zufaͤllen einer ungewiſſen Zukunft aus-
zuſezen. Dieſer lezte Gedanke machte ihn ſtuzen; aber
er wurde bald von andern Vorſtellungen verdraͤngt,
die ſein gefuͤhlvolles Herz weit ſtaͤrker ruͤhrten als alles
was ihn allein und unmittelbar angieng. Er ſezte ſich
an die Stelle der Danae. Er mahlte ſich ihren Schmerz
vor, wenn ſie bey ihrer Wiederkunft ſeine Flucht er-
fahren wuͤrde. Sie hatte ihn ſo zaͤrtlich geliebt! —
Alles Boͤſe, was ihm Hippias von ihr geſagt, alles
was er ſelbſt hinzugedacht hatte, konnte in dieſem Augen-
blik die Stimme des Gefuͤhls nicht uͤbertaͤuben, wel-
ches ihn uͤberzeugte, daß er wahrhaftig geliebt worden
war. Wenn die Groͤſſe unſrer Liebe das natuͤrliche
Maß unſrer Schmerzen uͤber den Verluſt des Geliebten
iſt, wie ungluͤklich mußte ſie werden! Das Mitleiden,
welches dieſe Vorſtellung in ihm erregte, machte ſie wie-
der zu einem intereſſanten Gegenſtand fuͤr ſein Herz.
Jhr Bild ſtellte ſich ihm wieder mit allen den Reizun-
gen dar, deren zauberiſche Gewalt er ſo oft erfahren
hatte. Was fuͤr Erinnerungen! Er konnte ſich nicht
erwehren, ihnen etliche Augenblike nach zuhaͤngen; und
fuͤhlte immer weniger Kraft, ſich wieder von ihnen loß-
zureiſſen. Seine ſchon halb uͤberwundene Seele wider-
ſtand noch, aber immer ſchwaͤcher. Amor, um deſto
gewiſſer zu ſiegen, verbarg ſich unter die ruͤhrende Ge-
ſtalt des Mitleidens, der Großmuth, der Dankbar-
keit — Wie? er ſollte eine ſo inbruͤnſtige Liebe

mit
[Agath. II. Th.] D
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[49/0051] Achtes Buch, fuͤnftes Capitel. neuem, als ein im Ocean der Welt herumtreibender Verbannter, den Zufaͤllen einer ungewiſſen Zukunft aus- zuſezen. Dieſer lezte Gedanke machte ihn ſtuzen; aber er wurde bald von andern Vorſtellungen verdraͤngt, die ſein gefuͤhlvolles Herz weit ſtaͤrker ruͤhrten als alles was ihn allein und unmittelbar angieng. Er ſezte ſich an die Stelle der Danae. Er mahlte ſich ihren Schmerz vor, wenn ſie bey ihrer Wiederkunft ſeine Flucht er- fahren wuͤrde. Sie hatte ihn ſo zaͤrtlich geliebt! — Alles Boͤſe, was ihm Hippias von ihr geſagt, alles was er ſelbſt hinzugedacht hatte, konnte in dieſem Augen- blik die Stimme des Gefuͤhls nicht uͤbertaͤuben, wel- ches ihn uͤberzeugte, daß er wahrhaftig geliebt worden war. Wenn die Groͤſſe unſrer Liebe das natuͤrliche Maß unſrer Schmerzen uͤber den Verluſt des Geliebten iſt, wie ungluͤklich mußte ſie werden! Das Mitleiden, welches dieſe Vorſtellung in ihm erregte, machte ſie wie- der zu einem intereſſanten Gegenſtand fuͤr ſein Herz. Jhr Bild ſtellte ſich ihm wieder mit allen den Reizun- gen dar, deren zauberiſche Gewalt er ſo oft erfahren hatte. Was fuͤr Erinnerungen! Er konnte ſich nicht erwehren, ihnen etliche Augenblike nach zuhaͤngen; und fuͤhlte immer weniger Kraft, ſich wieder von ihnen loß- zureiſſen. Seine ſchon halb uͤberwundene Seele wider- ſtand noch, aber immer ſchwaͤcher. Amor, um deſto gewiſſer zu ſiegen, verbarg ſich unter die ruͤhrende Ge- ſtalt des Mitleidens, der Großmuth, der Dankbar- keit — Wie? er ſollte eine ſo inbruͤnſtige Liebe mit [Agath. II. Th.] D

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/51>, abgerufen am 25.11.2024.