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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
wieder angedeyhen zu lassen, der ihr von den strengesten
Verehrern der Tugend nicht versagt werden kan. Es
war schwer, sehr schwer, würde ein Socrates gesagt
haben, den Reizungen eines so schönen Gegenstandes,
den Verführungen so vieler vereinigter Zauberkräfte zu
widerstehen; die Flucht war das einzige sichere Net-
tungs-Mittel; es war freylich fast eben so schwer;
aber das Vermögen dazu war wenigstens anfangs in
eurer Gewalt; und es war unvorsichtig an euch, nicht
zu denken, daß eine Zeit kommen würde, da ihr keine
Kräfte mehr zum fliehen haben würdet. So ungefehr
möchte derjenige gesagt haben, der den Critobulus,
weil er den schönen Knaben des Alcibiades geküßt hatte,
einen Wagehals nannte; und dem jungen Xenophon
rieth, vor einem schönen Gesichte so behende wie vor
einem Basilisken davon zu lauffen. Allein so bescheiden
und so wahr klang die Sprache der Eigenliebe nicht.
Es war unmöglich, sagte sie unserm Helden, so mäch-
tigen Reizungen zu widerstehen; es war unmöglich zu
entfliehen. Sie nahm die ganze Lebhaftigkeit seiner Ein-
bildungs-Kraft zu hülfe, ihm die Wahrheit dieser tröst-
lichen Versicherungen zu beweisen; und wenn sie es nicht
so weit brachte, ein gewisses innerliches Gefühl, welches
ihr widersprach, und welches vielleicht das gewisseste
Merkmal der Freyheit unsers Willens ist, gänzlich zu be-
täuben, so gelang es ihr doch unvermerkt, den Gram aus
seinem Gemüthe zu verbannen, und dieses sanfte Licht
wieder darinn auszubreiten, worinn wir ordentlicher

Weise

Agathon.
wieder angedeyhen zu laſſen, der ihr von den ſtrengeſten
Verehrern der Tugend nicht verſagt werden kan. Es
war ſchwer, ſehr ſchwer, wuͤrde ein Socrates geſagt
haben, den Reizungen eines ſo ſchoͤnen Gegenſtandes,
den Verfuͤhrungen ſo vieler vereinigter Zauberkraͤfte zu
widerſtehen; die Flucht war das einzige ſichere Net-
tungs-Mittel; es war freylich faſt eben ſo ſchwer;
aber das Vermoͤgen dazu war wenigſtens anfangs in
eurer Gewalt; und es war unvorſichtig an euch, nicht
zu denken, daß eine Zeit kommen wuͤrde, da ihr keine
Kraͤfte mehr zum fliehen haben wuͤrdet. So ungefehr
moͤchte derjenige geſagt haben, der den Critobulus,
weil er den ſchoͤnen Knaben des Alcibiades gekuͤßt hatte,
einen Wagehals nannte; und dem jungen Xenophon
rieth, vor einem ſchoͤnen Geſichte ſo behende wie vor
einem Baſilisken davon zu lauffen. Allein ſo beſcheiden
und ſo wahr klang die Sprache der Eigenliebe nicht.
Es war unmoͤglich, ſagte ſie unſerm Helden, ſo maͤch-
tigen Reizungen zu widerſtehen; es war unmoͤglich zu
entfliehen. Sie nahm die ganze Lebhaftigkeit ſeiner Ein-
bildungs-Kraft zu huͤlfe, ihm die Wahrheit dieſer troͤſt-
lichen Verſicherungen zu beweiſen; und wenn ſie es nicht
ſo weit brachte, ein gewiſſes innerliches Gefuͤhl, welches
ihr widerſprach, und welches vielleicht das gewiſſeſte
Merkmal der Freyheit unſers Willens iſt, gaͤnzlich zu be-
taͤuben, ſo gelang es ihr doch unvermerkt, den Gram aus
ſeinem Gemuͤthe zu verbannen, und dieſes ſanfte Licht
wieder darinn auszubreiten, worinn wir ordentlicher

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[36/0038] Agathon. wieder angedeyhen zu laſſen, der ihr von den ſtrengeſten Verehrern der Tugend nicht verſagt werden kan. Es war ſchwer, ſehr ſchwer, wuͤrde ein Socrates geſagt haben, den Reizungen eines ſo ſchoͤnen Gegenſtandes, den Verfuͤhrungen ſo vieler vereinigter Zauberkraͤfte zu widerſtehen; die Flucht war das einzige ſichere Net- tungs-Mittel; es war freylich faſt eben ſo ſchwer; aber das Vermoͤgen dazu war wenigſtens anfangs in eurer Gewalt; und es war unvorſichtig an euch, nicht zu denken, daß eine Zeit kommen wuͤrde, da ihr keine Kraͤfte mehr zum fliehen haben wuͤrdet. So ungefehr moͤchte derjenige geſagt haben, der den Critobulus, weil er den ſchoͤnen Knaben des Alcibiades gekuͤßt hatte, einen Wagehals nannte; und dem jungen Xenophon rieth, vor einem ſchoͤnen Geſichte ſo behende wie vor einem Baſilisken davon zu lauffen. Allein ſo beſcheiden und ſo wahr klang die Sprache der Eigenliebe nicht. Es war unmoͤglich, ſagte ſie unſerm Helden, ſo maͤch- tigen Reizungen zu widerſtehen; es war unmoͤglich zu entfliehen. Sie nahm die ganze Lebhaftigkeit ſeiner Ein- bildungs-Kraft zu huͤlfe, ihm die Wahrheit dieſer troͤſt- lichen Verſicherungen zu beweiſen; und wenn ſie es nicht ſo weit brachte, ein gewiſſes innerliches Gefuͤhl, welches ihr widerſprach, und welches vielleicht das gewiſſeſte Merkmal der Freyheit unſers Willens iſt, gaͤnzlich zu be- taͤuben, ſo gelang es ihr doch unvermerkt, den Gram aus ſeinem Gemuͤthe zu verbannen, und dieſes ſanfte Licht wieder darinn auszubreiten, worinn wir ordentlicher Weiſe

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/38>, abgerufen am 27.11.2024.