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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, viertes Capitel.
glüklichsten Abentheuer veranlassete, das unserm Hel-
den jemals zugestossen ist. Nachdem sie sich endlich aus
dem Walde herausgefunden hatten, erkannte Critolaus
die Gegend wieder; aber er sah zugleich, daß sie et-
liche Stunden weit von Haus entfernt waren. Das
Ungewitter wüthete noch immer fort, und es fand sich
kein näherer Ort, wohin sie ihre Zuflucht nehmen konn-
ten, als ein einsames Landhaus, welches seit mehr als
einem Jahr von einer fremden Dame von sehr sonder-
barem Character bewohnt wurde. Man vermuthete
aus einigen Umständen, daß sie die Wittwe eines Man-
nes von Ansehen und Vermögen seyn müsse; aber es
war bisher unmöglich gewesen, ihren Namen und vori-
gen Aufenthalt, oder was sie bewogen haben könnte,
ihn zu verändern, und in einer gänzlichen Abgeschieden-
heit von der Welt zu leben, auszuforschen. Das Ge-
rüchte sagte Wunder von ihrer Schönheit; indessen war
doch niemand der sich rühmen konnte, sie gesehen zu
haben. Ueberhaupt hatte man eine Zeit lang vieles
und desto mehr von ihr gesprochen, je weniger man
wußte; allein da sie fest entschlossen schien, sich nichts
darum zu bekümmern; so hatte man endlich auf ein-
mal aufgehört von ihr zu reden, und es der Zeit über-
lassen, das Geheimniß, das unter dieser Person und
ihrer sonderbaren Lebens-Art verborgen seyn möchte,
zu entdeken. Vielleicht, sagte Critolaus, ist es eine zweyte
Artemisia, die sich, ihrem Schmerz ungestört nachzuhän-
gen, in dieser Einöde lebendig begraben will. Jch
bin schon lange begierig gewesen sie zu sehen; dieser

Sturm

Eilftes Buch, viertes Capitel.
gluͤklichſten Abentheuer veranlaſſete, das unſerm Hel-
den jemals zugeſtoſſen iſt. Nachdem ſie ſich endlich aus
dem Walde herausgefunden hatten, erkannte Critolaus
die Gegend wieder; aber er ſah zugleich, daß ſie et-
liche Stunden weit von Haus entfernt waren. Das
Ungewitter wuͤthete noch immer fort, und es fand ſich
kein naͤherer Ort, wohin ſie ihre Zuflucht nehmen konn-
ten, als ein einſames Landhaus, welches ſeit mehr als
einem Jahr von einer fremden Dame von ſehr ſonder-
barem Character bewohnt wurde. Man vermuthete
aus einigen Umſtaͤnden, daß ſie die Wittwe eines Man-
nes von Anſehen und Vermoͤgen ſeyn muͤſſe; aber es
war bisher unmoͤglich geweſen, ihren Namen und vori-
gen Aufenthalt, oder was ſie bewogen haben koͤnnte,
ihn zu veraͤndern, und in einer gaͤnzlichen Abgeſchieden-
heit von der Welt zu leben, auszuforſchen. Das Ge-
ruͤchte ſagte Wunder von ihrer Schoͤnheit; indeſſen war
doch niemand der ſich ruͤhmen konnte, ſie geſehen zu
haben. Ueberhaupt hatte man eine Zeit lang vieles
und deſto mehr von ihr geſprochen, je weniger man
wußte; allein da ſie feſt entſchloſſen ſchien, ſich nichts
darum zu bekuͤmmern; ſo hatte man endlich auf ein-
mal aufgehoͤrt von ihr zu reden, und es der Zeit uͤber-
laſſen, das Geheimniß, das unter dieſer Perſon und
ihrer ſonderbaren Lebens-Art verborgen ſeyn moͤchte,
zu entdeken. Vielleicht, ſagte Critolaus, iſt es eine zweyte
Artemiſia, die ſich, ihrem Schmerz ungeſtoͤrt nachzuhaͤn-
gen, in dieſer Einoͤde lebendig begraben will. Jch
bin ſchon lange begierig geweſen ſie zu ſehen; dieſer

Sturm
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[333/0335] Eilftes Buch, viertes Capitel. gluͤklichſten Abentheuer veranlaſſete, das unſerm Hel- den jemals zugeſtoſſen iſt. Nachdem ſie ſich endlich aus dem Walde herausgefunden hatten, erkannte Critolaus die Gegend wieder; aber er ſah zugleich, daß ſie et- liche Stunden weit von Haus entfernt waren. Das Ungewitter wuͤthete noch immer fort, und es fand ſich kein naͤherer Ort, wohin ſie ihre Zuflucht nehmen konn- ten, als ein einſames Landhaus, welches ſeit mehr als einem Jahr von einer fremden Dame von ſehr ſonder- barem Character bewohnt wurde. Man vermuthete aus einigen Umſtaͤnden, daß ſie die Wittwe eines Man- nes von Anſehen und Vermoͤgen ſeyn muͤſſe; aber es war bisher unmoͤglich geweſen, ihren Namen und vori- gen Aufenthalt, oder was ſie bewogen haben koͤnnte, ihn zu veraͤndern, und in einer gaͤnzlichen Abgeſchieden- heit von der Welt zu leben, auszuforſchen. Das Ge- ruͤchte ſagte Wunder von ihrer Schoͤnheit; indeſſen war doch niemand der ſich ruͤhmen konnte, ſie geſehen zu haben. Ueberhaupt hatte man eine Zeit lang vieles und deſto mehr von ihr geſprochen, je weniger man wußte; allein da ſie feſt entſchloſſen ſchien, ſich nichts darum zu bekuͤmmern; ſo hatte man endlich auf ein- mal aufgehoͤrt von ihr zu reden, und es der Zeit uͤber- laſſen, das Geheimniß, das unter dieſer Perſon und ihrer ſonderbaren Lebens-Art verborgen ſeyn moͤchte, zu entdeken. Vielleicht, ſagte Critolaus, iſt es eine zweyte Artemiſia, die ſich, ihrem Schmerz ungeſtoͤrt nachzuhaͤn- gen, in dieſer Einoͤde lebendig begraben will. Jch bin ſchon lange begierig geweſen ſie zu ſehen; dieſer Sturm

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/335>, abgerufen am 24.11.2024.