Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
sichten in bessere Welten eröfnet, ohne sie fremd und
unbrauchbar in der gegenwärtigen zu machen; welches
durch das Erhabenste und Beste, was unsre Seele von
Gott, von dem Welt-System, und von ihrer eigenen
Natur und Bestimmung zu denken fähig ist, ihre Lei-
denschaften reiniget und mässiget, ihre Gesinnungen
verschönert, und (was kein so kleiner Vortheil ist,
als neunhundert und neun und neunzig Menschen unter
tausenden sich einbilden,) sie von der tyrannischen
Herrschaft dieser pöbelhaften Begriffe befreyet, welche
die Seele verunstalten, sie klein, niederträchtig, furcht-
sam, falsch und sclavenmässig machen; jede edle Nei-
gung, jeden grossen Gedanken abschreken und erstiken,
und doch darum nicht weniger von politischen und reli-
giosen Dämagogen unter dem grösten Theile des mensch-
lichen Geschlechts, aus Absichten, woraus diese Her-
ren billig ein Geheimnis machen, eifrigst unterhalten
werden.

Die zuverlässigste Probe über die Güte der Philoso-
phie des weisen Archytas ist, wie uns däucht, der mo-
ralische Character, den ihm das einstimmige Zeugnis
der Alten beylegt. Diese Probe, es ist wahr, geht
bey einem System von metaphysischen Speculationen
nicht an; aber die Philosophie des Archytas war ganz
practisch. Das Exempel so vieler grossen Geister, wel-
che in der Bestrebung, über die Grenzen des menschli-
chen Verstandes hinauszugehen, verunglükt waren,
hätte ihn in diesem Stüke vielleicht nicht weiser ge-

macht,

Agathon.
ſichten in beſſere Welten eroͤfnet, ohne ſie fremd und
unbrauchbar in der gegenwaͤrtigen zu machen; welches
durch das Erhabenſte und Beſte, was unſre Seele von
Gott, von dem Welt-Syſtem, und von ihrer eigenen
Natur und Beſtimmung zu denken faͤhig iſt, ihre Lei-
denſchaften reiniget und maͤſſiget, ihre Geſinnungen
verſchoͤnert, und (was kein ſo kleiner Vortheil iſt,
als neunhundert und neun und neunzig Menſchen unter
tauſenden ſich einbilden,) ſie von der tyranniſchen
Herrſchaft dieſer poͤbelhaften Begriffe befreyet, welche
die Seele verunſtalten, ſie klein, niedertraͤchtig, furcht-
ſam, falſch und ſclavenmaͤſſig machen; jede edle Nei-
gung, jeden groſſen Gedanken abſchreken und erſtiken,
und doch darum nicht weniger von politiſchen und reli-
gioſen Daͤmagogen unter dem groͤſten Theile des menſch-
lichen Geſchlechts, aus Abſichten, woraus dieſe Her-
ren billig ein Geheimnis machen, eifrigſt unterhalten
werden.

Die zuverlaͤſſigſte Probe uͤber die Guͤte der Philoſo-
phie des weiſen Archytas iſt, wie uns daͤucht, der mo-
raliſche Character, den ihm das einſtimmige Zeugnis
der Alten beylegt. Dieſe Probe, es iſt wahr, geht
bey einem Syſtem von metaphyſiſchen Speculationen
nicht an; aber die Philoſophie des Archytas war ganz
practiſch. Das Exempel ſo vieler groſſen Geiſter, wel-
che in der Beſtrebung, uͤber die Grenzen des menſchli-
chen Verſtandes hinauszugehen, verungluͤkt waren,
haͤtte ihn in dieſem Stuͤke vielleicht nicht weiſer ge-

macht,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0312" n="310"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
&#x017F;ichten in be&#x017F;&#x017F;ere Welten ero&#x0364;fnet, ohne &#x017F;ie fremd und<lb/>
unbrauchbar in der gegenwa&#x0364;rtigen zu machen; welches<lb/>
durch das Erhaben&#x017F;te und Be&#x017F;te, was un&#x017F;re Seele von<lb/>
Gott, von dem Welt-Sy&#x017F;tem, und von ihrer eigenen<lb/>
Natur und Be&#x017F;timmung zu denken fa&#x0364;hig i&#x017F;t, ihre Lei-<lb/>
den&#x017F;chaften reiniget und ma&#x0364;&#x017F;&#x017F;iget, ihre Ge&#x017F;innungen<lb/>
ver&#x017F;cho&#x0364;nert, und (was kein &#x017F;o kleiner Vortheil i&#x017F;t,<lb/>
als neunhundert und neun und neunzig Men&#x017F;chen unter<lb/>
tau&#x017F;enden &#x017F;ich einbilden,) &#x017F;ie von der tyranni&#x017F;chen<lb/>
Herr&#x017F;chaft die&#x017F;er po&#x0364;belhaften Begriffe befreyet, welche<lb/>
die Seele verun&#x017F;talten, &#x017F;ie klein, niedertra&#x0364;chtig, furcht-<lb/>
&#x017F;am, fal&#x017F;ch und &#x017F;clavenma&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig machen; jede edle Nei-<lb/>
gung, jeden gro&#x017F;&#x017F;en Gedanken ab&#x017F;chreken und er&#x017F;tiken,<lb/>
und doch darum nicht weniger von politi&#x017F;chen und reli-<lb/>
gio&#x017F;en Da&#x0364;magogen unter dem gro&#x0364;&#x017F;ten Theile des men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Ge&#x017F;chlechts, aus Ab&#x017F;ichten, woraus die&#x017F;e Her-<lb/>
ren billig ein Geheimnis machen, eifrig&#x017F;t unterhalten<lb/>
werden.</p><lb/>
            <p>Die zuverla&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig&#x017F;te Probe u&#x0364;ber die Gu&#x0364;te der Philo&#x017F;o-<lb/>
phie des wei&#x017F;en Archytas i&#x017F;t, wie uns da&#x0364;ucht, der mo-<lb/>
rali&#x017F;che Character, den ihm das ein&#x017F;timmige Zeugnis<lb/>
der Alten beylegt. Die&#x017F;e Probe, es i&#x017F;t wahr, geht<lb/>
bey einem Sy&#x017F;tem von metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Speculationen<lb/>
nicht an; aber die Philo&#x017F;ophie des Archytas war ganz<lb/>
practi&#x017F;ch. Das Exempel &#x017F;o vieler gro&#x017F;&#x017F;en Gei&#x017F;ter, wel-<lb/>
che in der Be&#x017F;trebung, u&#x0364;ber die Grenzen des men&#x017F;chli-<lb/>
chen Ver&#x017F;tandes hinauszugehen, verunglu&#x0364;kt waren,<lb/>
ha&#x0364;tte ihn in die&#x017F;em Stu&#x0364;ke vielleicht nicht wei&#x017F;er ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">macht,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[310/0312] Agathon. ſichten in beſſere Welten eroͤfnet, ohne ſie fremd und unbrauchbar in der gegenwaͤrtigen zu machen; welches durch das Erhabenſte und Beſte, was unſre Seele von Gott, von dem Welt-Syſtem, und von ihrer eigenen Natur und Beſtimmung zu denken faͤhig iſt, ihre Lei- denſchaften reiniget und maͤſſiget, ihre Geſinnungen verſchoͤnert, und (was kein ſo kleiner Vortheil iſt, als neunhundert und neun und neunzig Menſchen unter tauſenden ſich einbilden,) ſie von der tyranniſchen Herrſchaft dieſer poͤbelhaften Begriffe befreyet, welche die Seele verunſtalten, ſie klein, niedertraͤchtig, furcht- ſam, falſch und ſclavenmaͤſſig machen; jede edle Nei- gung, jeden groſſen Gedanken abſchreken und erſtiken, und doch darum nicht weniger von politiſchen und reli- gioſen Daͤmagogen unter dem groͤſten Theile des menſch- lichen Geſchlechts, aus Abſichten, woraus dieſe Her- ren billig ein Geheimnis machen, eifrigſt unterhalten werden. Die zuverlaͤſſigſte Probe uͤber die Guͤte der Philoſo- phie des weiſen Archytas iſt, wie uns daͤucht, der mo- raliſche Character, den ihm das einſtimmige Zeugnis der Alten beylegt. Dieſe Probe, es iſt wahr, geht bey einem Syſtem von metaphyſiſchen Speculationen nicht an; aber die Philoſophie des Archytas war ganz practiſch. Das Exempel ſo vieler groſſen Geiſter, wel- che in der Beſtrebung, uͤber die Grenzen des menſchli- chen Verſtandes hinauszugehen, verungluͤkt waren, haͤtte ihn in dieſem Stuͤke vielleicht nicht weiſer ge- macht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/312
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/312>, abgerufen am 24.11.2024.