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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, fünftes Capitel.
möglich gewesen, daß unser Held nach und nach sich
endlich auf einem Punct befand, wo ihn damals, da
er in der Grotte der Nymphen auf Erscheinungen der
Götter wartete -- oder da er die Grundsäze, die Ver-
heissungen und die Freundschaft des Sophisten Hippias
mit einem so feurigen Unwillen von sich stieß -- ver-
muthlich niemand, oder nur die schlauesten Kenner des
menschlichen Herzens erwartet haben mögen -- nehm-
lich da, wo ihm ein grosser Theil seiner vormaligen
Jdeen, an denen er zu Smyrna nur zu zweiffeln ange-
fangen hatte, nun selbsten ganz schimärisch und belachens-
werth, und diejenigen, deren Gegenstände ihm zwar
ehrwürdig bleiben mußten, doch subjectivisch betrachtet,
in der barokischen Gestalt, wie sie in der Einbildung
der Sterblichen verkleinert, verzerrt, vermischt oder
verkleidet werden, zu nichts anderm zu taugen schienen,
als lustig damit zu machen.

Unsere nachdenkenden Leser werden nunmehr ganz
deutlich begreiffen, warum wir Bedenken getragen ha-
ben, dem Urheber der Griechischen Handschrift in sei-
nem allzugünstigen Urtheil von dem gegenwärtigen mo-
ralischen Zustande unsers Helden, Beyfall zu geben.
Wir können uns nicht verbergen, daß dieser Zustand
für seine Tugend gefährlich ist, und desto gefährlicher,
je mehr man in demselben durch eine gewisse Behaglich-
keit, Munterkeit des Geistes, und andre Anscheinungen
einer völligen Gesundheit, sicher gemacht zu werden
pflegt, sich in seinem natürlichen Zustande zu glauben.
Nicht als ob es uns eben so leid sey, unsern Helden
(den wir mit allen seinen Fehlern eben so sehr lieben,

als

Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
moͤglich geweſen, daß unſer Held nach und nach ſich
endlich auf einem Punct befand, wo ihn damals, da
er in der Grotte der Nymphen auf Erſcheinungen der
Goͤtter wartete ‒‒ oder da er die Grundſaͤze, die Ver-
heiſſungen und die Freundſchaft des Sophiſten Hippias
mit einem ſo feurigen Unwillen von ſich ſtieß ‒‒ ver-
muthlich niemand, oder nur die ſchlaueſten Kenner des
menſchlichen Herzens erwartet haben moͤgen ‒‒ nehm-
lich da, wo ihm ein groſſer Theil ſeiner vormaligen
Jdeen, an denen er zu Smyrna nur zu zweiffeln ange-
fangen hatte, nun ſelbſten ganz ſchimaͤriſch und belachens-
werth, und diejenigen, deren Gegenſtaͤnde ihm zwar
ehrwuͤrdig bleiben mußten, doch ſubjectiviſch betrachtet,
in der barokiſchen Geſtalt, wie ſie in der Einbildung
der Sterblichen verkleinert, verzerrt, vermiſcht oder
verkleidet werden, zu nichts anderm zu taugen ſchienen,
als luſtig damit zu machen.

Unſere nachdenkenden Leſer werden nunmehr ganz
deutlich begreiffen, warum wir Bedenken getragen ha-
ben, dem Urheber der Griechiſchen Handſchrift in ſei-
nem allzuguͤnſtigen Urtheil von dem gegenwaͤrtigen mo-
raliſchen Zuſtande unſers Helden, Beyfall zu geben.
Wir koͤnnen uns nicht verbergen, daß dieſer Zuſtand
fuͤr ſeine Tugend gefaͤhrlich iſt, und deſto gefaͤhrlicher,
je mehr man in demſelben durch eine gewiſſe Behaglich-
keit, Munterkeit des Geiſtes, und andre Anſcheinungen
einer voͤlligen Geſundheit, ſicher gemacht zu werden
pflegt, ſich in ſeinem natuͤrlichen Zuſtande zu glauben.
Nicht als ob es uns eben ſo leid ſey, unſern Helden
(den wir mit allen ſeinen Fehlern eben ſo ſehr lieben,

als
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[287/0289] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. moͤglich geweſen, daß unſer Held nach und nach ſich endlich auf einem Punct befand, wo ihn damals, da er in der Grotte der Nymphen auf Erſcheinungen der Goͤtter wartete ‒‒ oder da er die Grundſaͤze, die Ver- heiſſungen und die Freundſchaft des Sophiſten Hippias mit einem ſo feurigen Unwillen von ſich ſtieß ‒‒ ver- muthlich niemand, oder nur die ſchlaueſten Kenner des menſchlichen Herzens erwartet haben moͤgen ‒‒ nehm- lich da, wo ihm ein groſſer Theil ſeiner vormaligen Jdeen, an denen er zu Smyrna nur zu zweiffeln ange- fangen hatte, nun ſelbſten ganz ſchimaͤriſch und belachens- werth, und diejenigen, deren Gegenſtaͤnde ihm zwar ehrwuͤrdig bleiben mußten, doch ſubjectiviſch betrachtet, in der barokiſchen Geſtalt, wie ſie in der Einbildung der Sterblichen verkleinert, verzerrt, vermiſcht oder verkleidet werden, zu nichts anderm zu taugen ſchienen, als luſtig damit zu machen. Unſere nachdenkenden Leſer werden nunmehr ganz deutlich begreiffen, warum wir Bedenken getragen ha- ben, dem Urheber der Griechiſchen Handſchrift in ſei- nem allzuguͤnſtigen Urtheil von dem gegenwaͤrtigen mo- raliſchen Zuſtande unſers Helden, Beyfall zu geben. Wir koͤnnen uns nicht verbergen, daß dieſer Zuſtand fuͤr ſeine Tugend gefaͤhrlich iſt, und deſto gefaͤhrlicher, je mehr man in demſelben durch eine gewiſſe Behaglich- keit, Munterkeit des Geiſtes, und andre Anſcheinungen einer voͤlligen Geſundheit, ſicher gemacht zu werden pflegt, ſich in ſeinem natuͤrlichen Zuſtande zu glauben. Nicht als ob es uns eben ſo leid ſey, unſern Helden (den wir mit allen ſeinen Fehlern eben ſo ſehr lieben, als

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/289>, abgerufen am 25.11.2024.