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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, fünftes Capitel.
zu reden, welche (wie die homerische Göttersprache)
allen Dingen andre Namen giebt, ohne daß die Dinge
selbst darum etwas anders sind, als sie unter ihren ge-
wöhnlichen Namen sind, auf eine ausserordentliche Vor-
treflichkeit des Characters dieser Person zu machen pflegt,
ist eben so falsch, als das Vorurtheil, welches viele ge-
gen eine gelassene und bescheidene Tugend gefaßt haben,
welche, ohne sich durch feyrliches Gepränge, hochfliegende
Jdeen, anmaßliche Privilegien von den Gebrechen der
menschlichen Natur, und unerbittliche Strenge gegen
dieselben anzukündigen, nur darum weniger zu verspre-
chen scheint, um im Werke selbst desto mehr zu leisten.
Dieses vorausgesezt könnten wir vielleicht mit gutem
Grunde behaupten, daß die Tugend unsers Helden,
durch die neuerliche Veränderung, die in seiner Den-
kensart vorgieng, in verschiedenen Betrachtungen,
grosse Vortheile erhalten habe. Aber (wir wollen es
nur gestehen) was sie dabey auf einer Seite gewann,
verlohr sie auf einer andern wieder. Die Begriffe,
welche wir uns von unsrer eignen Natur machen, ha-
ben einen entscheidenden Einfluß auf alle unsre übrigen
Begriffe. So irrig, so lächerlich und kindisch es ist,
wenn wir uns einbilden (und doch bilden sich das die
Meisten ein) daß der Mensch die Hauptfigur in der gan-
zen Schöpfung, und alles andere bloß um seinetwillen
da sey -- So natürlich ist hingegen, daß er es in dem
besondern System seiner eignen Jdeen ist. Jn dieser
kleinen Welt ist und bleibt er, er wolle oder wolle
nicht, der Mittelpunct -- der Held des Stüks, auf

den

Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
zu reden, welche (wie die homeriſche Goͤtterſprache)
allen Dingen andre Namen giebt, ohne daß die Dinge
ſelbſt darum etwas anders ſind, als ſie unter ihren ge-
woͤhnlichen Namen ſind, auf eine auſſerordentliche Vor-
treflichkeit des Characters dieſer Perſon zu machen pflegt,
iſt eben ſo falſch, als das Vorurtheil, welches viele ge-
gen eine gelaſſene und beſcheidene Tugend gefaßt haben,
welche, ohne ſich durch feyrliches Gepraͤnge, hochfliegende
Jdeen, anmaßliche Privilegien von den Gebrechen der
menſchlichen Natur, und unerbittliche Strenge gegen
dieſelben anzukuͤndigen, nur darum weniger zu verſpre-
chen ſcheint, um im Werke ſelbſt deſto mehr zu leiſten.
Dieſes vorausgeſezt koͤnnten wir vielleicht mit gutem
Grunde behaupten, daß die Tugend unſers Helden,
durch die neuerliche Veraͤnderung, die in ſeiner Den-
kensart vorgieng, in verſchiedenen Betrachtungen,
groſſe Vortheile erhalten habe. Aber (wir wollen es
nur geſtehen) was ſie dabey auf einer Seite gewann,
verlohr ſie auf einer andern wieder. Die Begriffe,
welche wir uns von unſrer eignen Natur machen, ha-
ben einen entſcheidenden Einfluß auf alle unſre uͤbrigen
Begriffe. So irrig, ſo laͤcherlich und kindiſch es iſt,
wenn wir uns einbilden (und doch bilden ſich das die
Meiſten ein) daß der Menſch die Hauptfigur in der gan-
zen Schoͤpfung, und alles andere bloß um ſeinetwillen
da ſey ‒‒ So natuͤrlich iſt hingegen, daß er es in dem
beſondern Syſtem ſeiner eignen Jdeen iſt. Jn dieſer
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[283/0285] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. zu reden, welche (wie die homeriſche Goͤtterſprache) allen Dingen andre Namen giebt, ohne daß die Dinge ſelbſt darum etwas anders ſind, als ſie unter ihren ge- woͤhnlichen Namen ſind, auf eine auſſerordentliche Vor- treflichkeit des Characters dieſer Perſon zu machen pflegt, iſt eben ſo falſch, als das Vorurtheil, welches viele ge- gen eine gelaſſene und beſcheidene Tugend gefaßt haben, welche, ohne ſich durch feyrliches Gepraͤnge, hochfliegende Jdeen, anmaßliche Privilegien von den Gebrechen der menſchlichen Natur, und unerbittliche Strenge gegen dieſelben anzukuͤndigen, nur darum weniger zu verſpre- chen ſcheint, um im Werke ſelbſt deſto mehr zu leiſten. Dieſes vorausgeſezt koͤnnten wir vielleicht mit gutem Grunde behaupten, daß die Tugend unſers Helden, durch die neuerliche Veraͤnderung, die in ſeiner Den- kensart vorgieng, in verſchiedenen Betrachtungen, groſſe Vortheile erhalten habe. Aber (wir wollen es nur geſtehen) was ſie dabey auf einer Seite gewann, verlohr ſie auf einer andern wieder. Die Begriffe, welche wir uns von unſrer eignen Natur machen, ha- ben einen entſcheidenden Einfluß auf alle unſre uͤbrigen Begriffe. So irrig, ſo laͤcherlich und kindiſch es iſt, wenn wir uns einbilden (und doch bilden ſich das die Meiſten ein) daß der Menſch die Hauptfigur in der gan- zen Schoͤpfung, und alles andere bloß um ſeinetwillen da ſey ‒‒ So natuͤrlich iſt hingegen, daß er es in dem beſondern Syſtem ſeiner eignen Jdeen iſt. Jn dieſer kleinen Welt iſt und bleibt er, er wolle oder wolle nicht, der Mittelpunct ‒‒ der Held des Stuͤks, auf den

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/285>, abgerufen am 26.11.2024.