Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehentes Buch, zweytes Capitel.
einfallen ließ, die Beobachtung zu machen, daß Cleonissa
schön sey. Er hatte sie noch nicht lange mit einiger
Aufmerksamkeit beobachtet, so däuchte ihn, daß er noch
nie keine so schöne Creatur gesehen habe; und nun fieng
er an sich zu verwundern, daß er diese Beobachtung
nicht eher gemacht habe. Endlich erinnerte er sich,
daß die Dame sich jederzeit durch eine sehr spröde Tugend
und einen erklärten Hang für die Metaphysik unterschie-
den hatte; und nun zweifelte er nicht mehr, daß es
dieser Umstand gewesen seyn müsse, was ihn verhindert
habe, ihrer Schönheit eher Gerechtigkeit wiederfahren
zu lassen. Eine Art von maschinalischer Ehrfurcht vor
der Tugend, die von seiner Jndolenz und der furcht-
baren Vorstellung herkam, welche er sich von den
Schwierigkeiten sie zu besiegen in den Kopf gesezt hatte,
würde ihn vielleicht auch diesesmal in den Grenzen einer
unthätigen Bewunderung gehalten haben, wenn nicht
einer von diesen kleinen Zufällen, welche so oft die
Ursachen der grössesten Begebenheiten werden, seine
natürliche Trägheit auf einmal in die ungeduldigste Lei-
denschaft verwandelt hätte. Da dieser Zufall jederzeit
eine Anecdote geblieben ist, so können wir nicht gewiß
sagen, ob es (wie einige Sicilianische Geschichtschreiber
vorgeben) der nehmliche gewesen, wodurch in neuern
Zeiten die Schwester des berühmten Herzogs von Marl-
borough den ersten Grund zu dem ausserordentlichen Glük
ihrer Familie gelegt haben soll; oder ob er sie vielleicht
von ungefehr in dem Zustand überrascht haben mochte,
worinn der Actäon der Poeten das Unglük hatte, die

schöne
P 3

Zehentes Buch, zweytes Capitel.
einfallen ließ, die Beobachtung zu machen, daß Cleoniſſa
ſchoͤn ſey. Er hatte ſie noch nicht lange mit einiger
Aufmerkſamkeit beobachtet, ſo daͤuchte ihn, daß er noch
nie keine ſo ſchoͤne Creatur geſehen habe; und nun fieng
er an ſich zu verwundern, daß er dieſe Beobachtung
nicht eher gemacht habe. Endlich erinnerte er ſich,
daß die Dame ſich jederzeit durch eine ſehr ſproͤde Tugend
und einen erklaͤrten Hang fuͤr die Metaphyſik unterſchie-
den hatte; und nun zweifelte er nicht mehr, daß es
dieſer Umſtand geweſen ſeyn muͤſſe, was ihn verhindert
habe, ihrer Schoͤnheit eher Gerechtigkeit wiederfahren
zu laſſen. Eine Art von maſchinaliſcher Ehrfurcht vor
der Tugend, die von ſeiner Jndolenz und der furcht-
baren Vorſtellung herkam, welche er ſich von den
Schwierigkeiten ſie zu beſiegen in den Kopf geſezt hatte,
wuͤrde ihn vielleicht auch dieſesmal in den Grenzen einer
unthaͤtigen Bewunderung gehalten haben, wenn nicht
einer von dieſen kleinen Zufaͤllen, welche ſo oft die
Urſachen der groͤſſeſten Begebenheiten werden, ſeine
natuͤrliche Traͤgheit auf einmal in die ungeduldigſte Lei-
denſchaft verwandelt haͤtte. Da dieſer Zufall jederzeit
eine Anecdote geblieben iſt, ſo koͤnnen wir nicht gewiß
ſagen, ob es (wie einige Sicilianiſche Geſchichtſchreiber
vorgeben) der nehmliche geweſen, wodurch in neuern
Zeiten die Schweſter des beruͤhmten Herzogs von Marl-
borough den erſten Grund zu dem auſſerordentlichen Gluͤk
ihrer Familie gelegt haben ſoll; oder ob er ſie vielleicht
von ungefehr in dem Zuſtand uͤberraſcht haben mochte,
worinn der Actaͤon der Poeten das Ungluͤk hatte, die

ſchoͤne
P 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0231" n="229"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zehentes Buch, zweytes Capitel.</hi></fw><lb/>
einfallen ließ, die Beobachtung zu machen, daß Cleoni&#x017F;&#x017F;a<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;n &#x017F;ey. Er hatte &#x017F;ie noch nicht lange mit einiger<lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit beobachtet, &#x017F;o da&#x0364;uchte ihn, daß er noch<lb/>
nie keine &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;ne Creatur ge&#x017F;ehen habe; und nun fieng<lb/>
er an &#x017F;ich zu verwundern, daß er die&#x017F;e Beobachtung<lb/>
nicht eher gemacht habe. Endlich erinnerte er &#x017F;ich,<lb/>
daß die Dame &#x017F;ich jederzeit durch eine &#x017F;ehr &#x017F;pro&#x0364;de Tugend<lb/>
und einen erkla&#x0364;rten Hang fu&#x0364;r die Metaphy&#x017F;ik unter&#x017F;chie-<lb/>
den hatte; und nun zweifelte er nicht mehr, daß es<lb/>
die&#x017F;er Um&#x017F;tand gewe&#x017F;en &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, was ihn verhindert<lb/>
habe, ihrer Scho&#x0364;nheit eher Gerechtigkeit wiederfahren<lb/>
zu la&#x017F;&#x017F;en. Eine Art von ma&#x017F;chinali&#x017F;cher Ehrfurcht vor<lb/>
der Tugend, die von &#x017F;einer Jndolenz und der furcht-<lb/>
baren Vor&#x017F;tellung herkam, welche er &#x017F;ich von den<lb/>
Schwierigkeiten &#x017F;ie zu be&#x017F;iegen in den Kopf ge&#x017F;ezt hatte,<lb/>
wu&#x0364;rde ihn vielleicht auch die&#x017F;esmal in den Grenzen einer<lb/>
untha&#x0364;tigen Bewunderung gehalten haben, wenn nicht<lb/>
einer von die&#x017F;en kleinen Zufa&#x0364;llen, welche &#x017F;o oft die<lb/>
Ur&#x017F;achen der gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten Begebenheiten werden, &#x017F;eine<lb/>
natu&#x0364;rliche Tra&#x0364;gheit auf einmal in die ungeduldig&#x017F;te Lei-<lb/>
den&#x017F;chaft verwandelt ha&#x0364;tte. Da die&#x017F;er Zufall jederzeit<lb/>
eine Anecdote geblieben i&#x017F;t, &#x017F;o ko&#x0364;nnen wir nicht gewiß<lb/>
&#x017F;agen, ob es (wie einige Siciliani&#x017F;che Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber<lb/>
vorgeben) der nehmliche gewe&#x017F;en, wodurch in neuern<lb/>
Zeiten die Schwe&#x017F;ter des beru&#x0364;hmten Herzogs von Marl-<lb/>
borough den er&#x017F;ten Grund zu dem au&#x017F;&#x017F;erordentlichen Glu&#x0364;k<lb/>
ihrer Familie gelegt haben &#x017F;oll; oder ob er &#x017F;ie vielleicht<lb/>
von ungefehr in dem Zu&#x017F;tand u&#x0364;berra&#x017F;cht haben mochte,<lb/>
worinn der Acta&#x0364;on der Poeten das Unglu&#x0364;k hatte, die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 3</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;cho&#x0364;ne</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[229/0231] Zehentes Buch, zweytes Capitel. einfallen ließ, die Beobachtung zu machen, daß Cleoniſſa ſchoͤn ſey. Er hatte ſie noch nicht lange mit einiger Aufmerkſamkeit beobachtet, ſo daͤuchte ihn, daß er noch nie keine ſo ſchoͤne Creatur geſehen habe; und nun fieng er an ſich zu verwundern, daß er dieſe Beobachtung nicht eher gemacht habe. Endlich erinnerte er ſich, daß die Dame ſich jederzeit durch eine ſehr ſproͤde Tugend und einen erklaͤrten Hang fuͤr die Metaphyſik unterſchie- den hatte; und nun zweifelte er nicht mehr, daß es dieſer Umſtand geweſen ſeyn muͤſſe, was ihn verhindert habe, ihrer Schoͤnheit eher Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen. Eine Art von maſchinaliſcher Ehrfurcht vor der Tugend, die von ſeiner Jndolenz und der furcht- baren Vorſtellung herkam, welche er ſich von den Schwierigkeiten ſie zu beſiegen in den Kopf geſezt hatte, wuͤrde ihn vielleicht auch dieſesmal in den Grenzen einer unthaͤtigen Bewunderung gehalten haben, wenn nicht einer von dieſen kleinen Zufaͤllen, welche ſo oft die Urſachen der groͤſſeſten Begebenheiten werden, ſeine natuͤrliche Traͤgheit auf einmal in die ungeduldigſte Lei- denſchaft verwandelt haͤtte. Da dieſer Zufall jederzeit eine Anecdote geblieben iſt, ſo koͤnnen wir nicht gewiß ſagen, ob es (wie einige Sicilianiſche Geſchichtſchreiber vorgeben) der nehmliche geweſen, wodurch in neuern Zeiten die Schweſter des beruͤhmten Herzogs von Marl- borough den erſten Grund zu dem auſſerordentlichen Gluͤk ihrer Familie gelegt haben ſoll; oder ob er ſie vielleicht von ungefehr in dem Zuſtand uͤberraſcht haben mochte, worinn der Actaͤon der Poeten das Ungluͤk hatte, die ſchoͤne P 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/231
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/231>, abgerufen am 27.11.2024.