Sich über einen so natürlichen Zufall zu verwundern, würde unserm Bedünken nach, eine grosse Sünde gegen das nie genug anzupreisende Nil admirari seyn, in welchem (nach der Meynung erfahrner Kenner der menschlichen Dinge) das eigentliche grosse Geheimnis der Weisheit, dasjenige was einen wahren Adepten macht, verborgen liegt. Die schöne Cleonissa war ein Frauenzimmer, und hatte also ihren Antheil an den Schwachheiten, welche die Natur ihrem Geschlecht eigen gemacht hat, und ohne welche diese Hälfte der mensch- lichen Gattung weder zu ihrer Bestimmung in dieser sublunarischen Welt so geschikt, noch in der That, so liebenswürdig seyn würde als sie ist. Ja wie wenig Verdienst würde selbst ihrer Tugend übrig bleiben, wenn sie nicht durch eben diese Schwachheiten auf die Probe gesezt würde?
Dem sey nun wie ihm wolle, die Dame fühlte, so bald sie unsern Helden erblikte, etwas, das die Tugend einer gewöhnlichen Sterblichen hätte beunruhigen kön- nen. Aber es giebt Tugenden von einer so starken Com- plexion, daß sie durch nichts beunruhiget werden; und die ihrige war von dieser Art. Sie überließ sich den Eindrüken, welche ohne Zuthun ihres Willens auf sie gemacht wurden, mit aller Unerschrokenheit, welche ihr das Bewustseyn ihrer Stärke geben konnte. Die Voll- kommenheit des Gegenstandes rechtfertigte die ausser- ordentliche Hochachtung, welche sie für ihn bezeugte. Grosse Seelen sind am geschiktesten, einander Gerechtig-
keit
[Agath. II. Th.] P
Zehentes Buch, zweytes Capitel.
Sich uͤber einen ſo natuͤrlichen Zufall zu verwundern, wuͤrde unſerm Beduͤnken nach, eine groſſe Suͤnde gegen das nie genug anzupreiſende Nil admirari ſeyn, in welchem (nach der Meynung erfahrner Kenner der menſchlichen Dinge) das eigentliche groſſe Geheimnis der Weisheit, dasjenige was einen wahren Adepten macht, verborgen liegt. Die ſchoͤne Cleoniſſa war ein Frauenzimmer, und hatte alſo ihren Antheil an den Schwachheiten, welche die Natur ihrem Geſchlecht eigen gemacht hat, und ohne welche dieſe Haͤlfte der menſch- lichen Gattung weder zu ihrer Beſtimmung in dieſer ſublunariſchen Welt ſo geſchikt, noch in der That, ſo liebenswuͤrdig ſeyn wuͤrde als ſie iſt. Ja wie wenig Verdienſt wuͤrde ſelbſt ihrer Tugend uͤbrig bleiben, wenn ſie nicht durch eben dieſe Schwachheiten auf die Probe geſezt wuͤrde?
Dem ſey nun wie ihm wolle, die Dame fuͤhlte, ſo bald ſie unſern Helden erblikte, etwas, das die Tugend einer gewoͤhnlichen Sterblichen haͤtte beunruhigen koͤn- nen. Aber es giebt Tugenden von einer ſo ſtarken Com- plexion, daß ſie durch nichts beunruhiget werden; und die ihrige war von dieſer Art. Sie uͤberließ ſich den Eindruͤken, welche ohne Zuthun ihres Willens auf ſie gemacht wurden, mit aller Unerſchrokenheit, welche ihr das Bewuſtſeyn ihrer Staͤrke geben konnte. Die Voll- kommenheit des Gegenſtandes rechtfertigte die auſſer- ordentliche Hochachtung, welche ſie fuͤr ihn bezeugte. Groſſe Seelen ſind am geſchikteſten, einander Gerechtig-
keit
[Agath. II. Th.] P
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0227"n="225"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Zehentes Buch, zweytes Capitel.</hi></fw><lb/><p>Sich uͤber einen ſo natuͤrlichen Zufall zu verwundern,<lb/>
wuͤrde unſerm Beduͤnken nach, eine groſſe Suͤnde gegen<lb/>
das nie genug anzupreiſende <hirendition="#aq"><hirendition="#i">Nil admirari</hi></hi>ſeyn, in<lb/>
welchem (nach der Meynung erfahrner Kenner der<lb/>
menſchlichen Dinge) das eigentliche groſſe Geheimnis<lb/>
der Weisheit, dasjenige was einen wahren Adepten<lb/>
macht, verborgen liegt. Die ſchoͤne Cleoniſſa war ein<lb/>
Frauenzimmer, und hatte alſo ihren Antheil an den<lb/>
Schwachheiten, welche die Natur ihrem Geſchlecht eigen<lb/>
gemacht hat, und ohne welche dieſe Haͤlfte der menſch-<lb/>
lichen Gattung weder zu ihrer Beſtimmung in dieſer<lb/>ſublunariſchen Welt ſo geſchikt, noch in der That, ſo<lb/>
liebenswuͤrdig ſeyn wuͤrde als ſie iſt. Ja wie wenig<lb/>
Verdienſt wuͤrde ſelbſt ihrer Tugend uͤbrig bleiben, wenn<lb/>ſie nicht durch eben dieſe Schwachheiten auf die Probe<lb/>
geſezt wuͤrde?</p><lb/><p>Dem ſey nun wie ihm wolle, die Dame fuͤhlte, ſo<lb/>
bald ſie unſern Helden erblikte, etwas, das die Tugend<lb/>
einer gewoͤhnlichen Sterblichen haͤtte beunruhigen koͤn-<lb/>
nen. Aber es giebt Tugenden von einer ſo ſtarken Com-<lb/>
plexion, daß ſie durch nichts beunruhiget werden; und<lb/>
die ihrige war von dieſer Art. Sie uͤberließ ſich den<lb/>
Eindruͤken, welche ohne Zuthun ihres Willens auf ſie<lb/>
gemacht wurden, mit aller Unerſchrokenheit, welche ihr<lb/>
das Bewuſtſeyn ihrer Staͤrke geben konnte. Die Voll-<lb/>
kommenheit des Gegenſtandes rechtfertigte die auſſer-<lb/>
ordentliche Hochachtung, welche ſie fuͤr ihn bezeugte.<lb/>
Groſſe Seelen ſind am geſchikteſten, einander Gerechtig-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">[Agath. <hirendition="#aq">II.</hi> Th.] P</fw><fwplace="bottom"type="catch">keit</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[225/0227]
Zehentes Buch, zweytes Capitel.
Sich uͤber einen ſo natuͤrlichen Zufall zu verwundern,
wuͤrde unſerm Beduͤnken nach, eine groſſe Suͤnde gegen
das nie genug anzupreiſende Nil admirari ſeyn, in
welchem (nach der Meynung erfahrner Kenner der
menſchlichen Dinge) das eigentliche groſſe Geheimnis
der Weisheit, dasjenige was einen wahren Adepten
macht, verborgen liegt. Die ſchoͤne Cleoniſſa war ein
Frauenzimmer, und hatte alſo ihren Antheil an den
Schwachheiten, welche die Natur ihrem Geſchlecht eigen
gemacht hat, und ohne welche dieſe Haͤlfte der menſch-
lichen Gattung weder zu ihrer Beſtimmung in dieſer
ſublunariſchen Welt ſo geſchikt, noch in der That, ſo
liebenswuͤrdig ſeyn wuͤrde als ſie iſt. Ja wie wenig
Verdienſt wuͤrde ſelbſt ihrer Tugend uͤbrig bleiben, wenn
ſie nicht durch eben dieſe Schwachheiten auf die Probe
geſezt wuͤrde?
Dem ſey nun wie ihm wolle, die Dame fuͤhlte, ſo
bald ſie unſern Helden erblikte, etwas, das die Tugend
einer gewoͤhnlichen Sterblichen haͤtte beunruhigen koͤn-
nen. Aber es giebt Tugenden von einer ſo ſtarken Com-
plexion, daß ſie durch nichts beunruhiget werden; und
die ihrige war von dieſer Art. Sie uͤberließ ſich den
Eindruͤken, welche ohne Zuthun ihres Willens auf ſie
gemacht wurden, mit aller Unerſchrokenheit, welche ihr
das Bewuſtſeyn ihrer Staͤrke geben konnte. Die Voll-
kommenheit des Gegenſtandes rechtfertigte die auſſer-
ordentliche Hochachtung, welche ſie fuͤr ihn bezeugte.
Groſſe Seelen ſind am geſchikteſten, einander Gerechtig-
keit
[Agath. II. Th.] P
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/227>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.