wünschte, in mitternächtlichen Stunden vor einer ge- mahlten Gebieterin ausgehaucht wurden.
Unter allen denjenigen, welche sich durch die Un- empfindlichkeit unsers Helden beleidiget fanden, konnte keine der schönen Cleonissa in Absicht aller Vollkommen- heiten, welche Natur und Kunst in einem Frauenzim- mer vereinigen können, den Vorzug streitig machen. Eine vollkommen regelmässige Schönheit ist (mit Er- laubnis aller derjenigen, welche dabey interessiert seyn mögen, die Grazien ihrer Königin vorzuziehen) unter allen Eigenschaften, die eine Dame haben kan, die- jenige welche den allgemeinsten, geschwindesten und stärk- sten Eindruk macht; und für tugendhafte Personen hat sie noch diesen Vortheil, daß sie das Verlangen von der Besizerin eines so seltnen Vorzugs geliebt zu seyn, in dem nehmlichen Augenblik durch eine Art von mechani- scher Ehrfurcht zurükscheucht, deren sich der verwegenste Satyr kaum erwehren kan. Cleonissa besaß diese Voll- kommenheit in einem so hohen Grade, der den kalt- sinnigsten Kennern des Schönen nichts daran zu tadeln übrig ließ; es war unmöglich sie ohne Bewunderung anzusehen. Aber die ungemeine Zurükhaltung, welche sie affectierte, das Majestätische, das sie ihrer Mine, ihren Bliken und allen ihren Bewegungen zu geben wußte, mit dem Ruf einer strengen Tugend, worein sie sich dadurch gesezt hatte, verstärkte die bemeldte natür- liche Würkung ihrer Schönheit so sehr, daß niemand kühn genug war, sich in die Gefahr zu wagen, den
Jxion
Zehentes Buch, zweytes Capitel.
wuͤnſchte, in mitternaͤchtlichen Stunden vor einer ge- mahlten Gebieterin ausgehaucht wurden.
Unter allen denjenigen, welche ſich durch die Un- empfindlichkeit unſers Helden beleidiget fanden, konnte keine der ſchoͤnen Cleoniſſa in Abſicht aller Vollkommen- heiten, welche Natur und Kunſt in einem Frauenzim- mer vereinigen koͤnnen, den Vorzug ſtreitig machen. Eine vollkommen regelmaͤſſige Schoͤnheit iſt (mit Er- laubnis aller derjenigen, welche dabey intereſſiert ſeyn moͤgen, die Grazien ihrer Koͤnigin vorzuziehen) unter allen Eigenſchaften, die eine Dame haben kan, die- jenige welche den allgemeinſten, geſchwindeſten und ſtaͤrk- ſten Eindruk macht; und fuͤr tugendhafte Perſonen hat ſie noch dieſen Vortheil, daß ſie das Verlangen von der Beſizerin eines ſo ſeltnen Vorzugs geliebt zu ſeyn, in dem nehmlichen Augenblik durch eine Art von mechani- ſcher Ehrfurcht zuruͤkſcheucht, deren ſich der verwegenſte Satyr kaum erwehren kan. Cleoniſſa beſaß dieſe Voll- kommenheit in einem ſo hohen Grade, der den kalt- ſinnigſten Kennern des Schoͤnen nichts daran zu tadeln uͤbrig ließ; es war unmoͤglich ſie ohne Bewunderung anzuſehen. Aber die ungemeine Zuruͤkhaltung, welche ſie affectierte, das Majeſtaͤtiſche, das ſie ihrer Mine, ihren Bliken und allen ihren Bewegungen zu geben wußte, mit dem Ruf einer ſtrengen Tugend, worein ſie ſich dadurch geſezt hatte, verſtaͤrkte die bemeldte natuͤr- liche Wuͤrkung ihrer Schoͤnheit ſo ſehr, daß niemand kuͤhn genug war, ſich in die Gefahr zu wagen, den
Jxion
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Zehentes Buch, zweytes Capitel.
wuͤnſchte, in mitternaͤchtlichen Stunden vor einer ge-
mahlten Gebieterin ausgehaucht wurden.
Unter allen denjenigen, welche ſich durch die Un-
empfindlichkeit unſers Helden beleidiget fanden, konnte
keine der ſchoͤnen Cleoniſſa in Abſicht aller Vollkommen-
heiten, welche Natur und Kunſt in einem Frauenzim-
mer vereinigen koͤnnen, den Vorzug ſtreitig machen.
Eine vollkommen regelmaͤſſige Schoͤnheit iſt (mit Er-
laubnis aller derjenigen, welche dabey intereſſiert ſeyn
moͤgen, die Grazien ihrer Koͤnigin vorzuziehen) unter
allen Eigenſchaften, die eine Dame haben kan, die-
jenige welche den allgemeinſten, geſchwindeſten und ſtaͤrk-
ſten Eindruk macht; und fuͤr tugendhafte Perſonen hat
ſie noch dieſen Vortheil, daß ſie das Verlangen von der
Beſizerin eines ſo ſeltnen Vorzugs geliebt zu ſeyn, in
dem nehmlichen Augenblik durch eine Art von mechani-
ſcher Ehrfurcht zuruͤkſcheucht, deren ſich der verwegenſte
Satyr kaum erwehren kan. Cleoniſſa beſaß dieſe Voll-
kommenheit in einem ſo hohen Grade, der den kalt-
ſinnigſten Kennern des Schoͤnen nichts daran zu tadeln
uͤbrig ließ; es war unmoͤglich ſie ohne Bewunderung
anzuſehen. Aber die ungemeine Zuruͤkhaltung, welche
ſie affectierte, das Majeſtaͤtiſche, das ſie ihrer Mine,
ihren Bliken und allen ihren Bewegungen zu geben
wußte, mit dem Ruf einer ſtrengen Tugend, worein
ſie ſich dadurch geſezt hatte, verſtaͤrkte die bemeldte natuͤr-
liche Wuͤrkung ihrer Schoͤnheit ſo ſehr, daß niemand
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/223>, abgerufen am 24.11.2024.
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