reden, nach der zum theil wenig sichern Vorstellung, die er sich von ihrem Character machte.
Er konnte, seit dem er den Dionys näher kannte, nicht daran denken, ein Muster eines guten Fürsten aus ihm zu machen; aber er hoffte doch nicht ohne Grund, sei- nen Lastern ihr schädlichstes Gift benehmen, und seiner guten Neigungen, oder vielmehr seiner guten Launen, seiner Leidenschaften und Schwachheiten selbst, sich zum Vortheil des gemeinen Besten bedienen zu können. Diese Meynung von seinem Prinzen war in der That so be- scheiden, daß er sie nicht tiefer herabstimmen konnte, ohne alle Hofnung zu Erreichung seiner Entwürfe auf- zugeben; und doch zeigte sich in der Folge, daß er noch zu gut von ihm gedacht hatte. Dionys hatte in der That Eigenschaften, welche viel gutes versprachen; aber unglüklicher Weise hatte er für jede derselben eine andere, welche alles wieder vernichtete, was jene zu- sagte; und wenn man ihn lange genug in der Nähe be- trachtet hatte, so befand sich's, daß seine vermeynten Tugenden würklich nichts anders als seine Laster waren, welche von einer gewissen Seite betrachtet, eine Farbe der Tugend annahmen. Jndessen ließ sich doch Agathon durch diese guten Anscheinungen so verblenden, daß er die Unverbesserlichkeit eines Characters von dieser Art, und also den Ungrund aller seiner Hofnungen nicht eher einsah, als bis ihm diese Entdekung zu nichts mehr nuzen konnte.
Die
N 4
Zehentes Buch, erſtes Capitel.
reden, nach der zum theil wenig ſichern Vorſtellung, die er ſich von ihrem Character machte.
Er konnte, ſeit dem er den Dionys naͤher kannte, nicht daran denken, ein Muſter eines guten Fuͤrſten aus ihm zu machen; aber er hoffte doch nicht ohne Grund, ſei- nen Laſtern ihr ſchaͤdlichſtes Gift benehmen, und ſeiner guten Neigungen, oder vielmehr ſeiner guten Launen, ſeiner Leidenſchaften und Schwachheiten ſelbſt, ſich zum Vortheil des gemeinen Beſten bedienen zu koͤnnen. Dieſe Meynung von ſeinem Prinzen war in der That ſo be- ſcheiden, daß er ſie nicht tiefer herabſtimmen konnte, ohne alle Hofnung zu Erreichung ſeiner Entwuͤrfe auf- zugeben; und doch zeigte ſich in der Folge, daß er noch zu gut von ihm gedacht hatte. Dionys hatte in der That Eigenſchaften, welche viel gutes verſprachen; aber ungluͤklicher Weiſe hatte er fuͤr jede derſelben eine andere, welche alles wieder vernichtete, was jene zu- ſagte; und wenn man ihn lange genug in der Naͤhe be- trachtet hatte, ſo befand ſich’s, daß ſeine vermeynten Tugenden wuͤrklich nichts anders als ſeine Laſter waren, welche von einer gewiſſen Seite betrachtet, eine Farbe der Tugend annahmen. Jndeſſen ließ ſich doch Agathon durch dieſe guten Anſcheinungen ſo verblenden, daß er die Unverbeſſerlichkeit eines Characters von dieſer Art, und alſo den Ungrund aller ſeiner Hofnungen nicht eher einſah, als bis ihm dieſe Entdekung zu nichts mehr nuzen konnte.
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Zehentes Buch, erſtes Capitel.
reden, nach der zum theil wenig ſichern Vorſtellung, die
er ſich von ihrem Character machte.
Er konnte, ſeit dem er den Dionys naͤher kannte, nicht
daran denken, ein Muſter eines guten Fuͤrſten aus ihm
zu machen; aber er hoffte doch nicht ohne Grund, ſei-
nen Laſtern ihr ſchaͤdlichſtes Gift benehmen, und ſeiner
guten Neigungen, oder vielmehr ſeiner guten Launen,
ſeiner Leidenſchaften und Schwachheiten ſelbſt, ſich zum
Vortheil des gemeinen Beſten bedienen zu koͤnnen. Dieſe
Meynung von ſeinem Prinzen war in der That ſo be-
ſcheiden, daß er ſie nicht tiefer herabſtimmen konnte,
ohne alle Hofnung zu Erreichung ſeiner Entwuͤrfe auf-
zugeben; und doch zeigte ſich in der Folge, daß er noch
zu gut von ihm gedacht hatte. Dionys hatte in der
That Eigenſchaften, welche viel gutes verſprachen;
aber ungluͤklicher Weiſe hatte er fuͤr jede derſelben eine
andere, welche alles wieder vernichtete, was jene zu-
ſagte; und wenn man ihn lange genug in der Naͤhe be-
trachtet hatte, ſo befand ſich’s, daß ſeine vermeynten
Tugenden wuͤrklich nichts anders als ſeine Laſter waren,
welche von einer gewiſſen Seite betrachtet, eine Farbe
der Tugend annahmen. Jndeſſen ließ ſich doch Agathon
durch dieſe guten Anſcheinungen ſo verblenden, daß er
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und alſo den Ungrund aller ſeiner Hofnungen nicht eher
einſah, als bis ihm dieſe Entdekung zu nichts mehr
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/201>, abgerufen am 25.11.2024.
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