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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, fünftes Capitel.
Ueberzeugung zu schmeicheln. Es ist wahr, er hatte
Absichten, bey allem was er von dem Augenblik, da
er den Fuß in Dionysens Palast sezte, that; sollte er
vielleicht keine gehabt haben? Was können wir, nach
der äussersten Schärfe, mehr fodern, als daß seine Ab-
sichten edel und tugendhaft seyn sollen; und so waren
sie, wie wir bereits gesehen haben. Es scheint also
nicht, daß man Grund habe, ihm aus der Vorsichtig-
keit einen Vorwurf zu machen, womit er, in der neuen
und schlüpfrigen Situation, worinn er war, alle seine
Handlungen einrichten mußte, wenn sie Mittel zu sei-
nen Absichten werden sollten. Wir geben zu, daß eine
Art von Zurükhaltung und Feinheit daraus hervorblikt,
welche nicht ganz in seinem vorigen Character zu seyn
scheint. Aber das verdient an sich selbst keinen Tadel.
Es ist noch nicht ausgemacht, ob diese Unveränderlich-
keit der Denkungs-Art und Verhaltungs-Regeln, wor-
auf manche ehrliche Leute sich so viel zu gute thun,
eine so grosse Tugend ist, als sie sich vielleicht einbilden.
Die Eigenliebe schmeichelt uns zwar sehr gerne, daß
wir so wie wir sind, am besten sind; aber sie hat Un-
recht uns so zu schmeicheln. Es ist unmöglich, daß in-
dem alles um uns her sich vrrändert, wir allein un-
veränderlich seyn sollten; und wenn es auch nicht un-
möglich wäre, so wär' es unschiklich. Andre Zeiten
erfordern andre Sitten; andre Umstände, andre Be-
stimmungen und Wendungen unser Verhaltens. Jn
moralischen Romanen finden wir freylich Helden, welche
sich immer in allem gleich bleiben -- und darum zu

loben

Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
Ueberzeugung zu ſchmeicheln. Es iſt wahr, er hatte
Abſichten, bey allem was er von dem Augenblik, da
er den Fuß in Dionyſens Palaſt ſezte, that; ſollte er
vielleicht keine gehabt haben? Was koͤnnen wir, nach
der aͤuſſerſten Schaͤrfe, mehr fodern, als daß ſeine Ab-
ſichten edel und tugendhaft ſeyn ſollen; und ſo waren
ſie, wie wir bereits geſehen haben. Es ſcheint alſo
nicht, daß man Grund habe, ihm aus der Vorſichtig-
keit einen Vorwurf zu machen, womit er, in der neuen
und ſchluͤpfrigen Situation, worinn er war, alle ſeine
Handlungen einrichten mußte, wenn ſie Mittel zu ſei-
nen Abſichten werden ſollten. Wir geben zu, daß eine
Art von Zuruͤkhaltung und Feinheit daraus hervorblikt,
welche nicht ganz in ſeinem vorigen Character zu ſeyn
ſcheint. Aber das verdient an ſich ſelbſt keinen Tadel.
Es iſt noch nicht ausgemacht, ob dieſe Unveraͤnderlich-
keit der Denkungs-Art und Verhaltungs-Regeln, wor-
auf manche ehrliche Leute ſich ſo viel zu gute thun,
eine ſo groſſe Tugend iſt, als ſie ſich vielleicht einbilden.
Die Eigenliebe ſchmeichelt uns zwar ſehr gerne, daß
wir ſo wie wir ſind, am beſten ſind; aber ſie hat Un-
recht uns ſo zu ſchmeicheln. Es iſt unmoͤglich, daß in-
dem alles um uns her ſich vrraͤndert, wir allein un-
veraͤnderlich ſeyn ſollten; und wenn es auch nicht un-
moͤglich waͤre, ſo waͤr’ es unſchiklich. Andre Zeiten
erfordern andre Sitten; andre Umſtaͤnde, andre Be-
ſtimmungen und Wendungen unſer Verhaltens. Jn
moraliſchen Romanen finden wir freylich Helden, welche
ſich immer in allem gleich bleiben ‒‒ und darum zu

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[189/0191] Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. Ueberzeugung zu ſchmeicheln. Es iſt wahr, er hatte Abſichten, bey allem was er von dem Augenblik, da er den Fuß in Dionyſens Palaſt ſezte, that; ſollte er vielleicht keine gehabt haben? Was koͤnnen wir, nach der aͤuſſerſten Schaͤrfe, mehr fodern, als daß ſeine Ab- ſichten edel und tugendhaft ſeyn ſollen; und ſo waren ſie, wie wir bereits geſehen haben. Es ſcheint alſo nicht, daß man Grund habe, ihm aus der Vorſichtig- keit einen Vorwurf zu machen, womit er, in der neuen und ſchluͤpfrigen Situation, worinn er war, alle ſeine Handlungen einrichten mußte, wenn ſie Mittel zu ſei- nen Abſichten werden ſollten. Wir geben zu, daß eine Art von Zuruͤkhaltung und Feinheit daraus hervorblikt, welche nicht ganz in ſeinem vorigen Character zu ſeyn ſcheint. Aber das verdient an ſich ſelbſt keinen Tadel. Es iſt noch nicht ausgemacht, ob dieſe Unveraͤnderlich- keit der Denkungs-Art und Verhaltungs-Regeln, wor- auf manche ehrliche Leute ſich ſo viel zu gute thun, eine ſo groſſe Tugend iſt, als ſie ſich vielleicht einbilden. Die Eigenliebe ſchmeichelt uns zwar ſehr gerne, daß wir ſo wie wir ſind, am beſten ſind; aber ſie hat Un- recht uns ſo zu ſchmeicheln. Es iſt unmoͤglich, daß in- dem alles um uns her ſich vrraͤndert, wir allein un- veraͤnderlich ſeyn ſollten; und wenn es auch nicht un- moͤglich waͤre, ſo waͤr’ es unſchiklich. Andre Zeiten erfordern andre Sitten; andre Umſtaͤnde, andre Be- ſtimmungen und Wendungen unſer Verhaltens. Jn moraliſchen Romanen finden wir freylich Helden, welche ſich immer in allem gleich bleiben ‒‒ und darum zu loben

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/191>, abgerufen am 22.11.2024.