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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, fünftes Capitel.
dorbener Freystaaten und alle Vorzüge wolregierter
Monarchien, in zwey contrastirende Gemählde zusam-
mendrängte, das Glük hatte, alle Stimmen davon zu
tragen, alle Zuhörer zu überreden, und dem Redner
eine Bewunderung zu zuziehen, welche den Stolz des
eitelsten Sophisten hätte sättigen können. Jedermann
war von einem Manne bezaubert, welcher so seltne
Gaben mit einer so grossen Denkungs-Art und mit so
menschenfreundlichen Gesinnungen vereinigte. Denn
Agathon hatte nicht die Tyrannie, sondern die Regie-
rung eines Vaters angepriesen, der seine Kinder wol
erzieht und glüklich zu machen sucht. Man sagte sich
selbst, was für goldene Tage Sicilien sehen würde,
wenn ein solcher Mann das Ruder führte. Er hatte
nicht vergessen, im Eingang seines Discurses dem Ver-
dacht vorzukommen, als ob er die Republiken aus
Rachsucht schelte, und die Monarchie aus Schmeicheley
und geheimen Absichten erhebe: Er hatte bey dieser Ge-
legenheit zu erkennen gegeben, daß er entschlossen sey,
nach Tarent überzugehen, um in der ruhigen Dunkel-
heit des Privatstandes, welchen er seiner Neigung nach
allen andern vorziehe, dem Nachforschen der Wahrheit
und der Verbesserung seines Gemüths obzuliegen -- (Re-
densarten, die in unsern Tagen seltsam und lächerlich
klingen würden, aber damals ihre Bedeutung und Würde
noch nicht gänzlich verlohren hatten.) Jedermann ta-
delte oder bedaurte diese Entschliessung, und wünschte, daß
Dionys alles anwenden möchte, ihn davon zurükzubrin-
gen. Niemalen hatte sich die Neigung des Prinzen mit

den
M 4

Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
dorbener Freyſtaaten und alle Vorzuͤge wolregierter
Monarchien, in zwey contraſtirende Gemaͤhlde zuſam-
mendraͤngte, das Gluͤk hatte, alle Stimmen davon zu
tragen, alle Zuhoͤrer zu uͤberreden, und dem Redner
eine Bewunderung zu zuziehen, welche den Stolz des
eitelſten Sophiſten haͤtte ſaͤttigen koͤnnen. Jedermann
war von einem Manne bezaubert, welcher ſo ſeltne
Gaben mit einer ſo groſſen Denkungs-Art und mit ſo
menſchenfreundlichen Geſinnungen vereinigte. Denn
Agathon hatte nicht die Tyrannie, ſondern die Regie-
rung eines Vaters angeprieſen, der ſeine Kinder wol
erzieht und gluͤklich zu machen ſucht. Man ſagte ſich
ſelbſt, was fuͤr goldene Tage Sicilien ſehen wuͤrde,
wenn ein ſolcher Mann das Ruder fuͤhrte. Er hatte
nicht vergeſſen, im Eingang ſeines Diſcurſes dem Ver-
dacht vorzukommen, als ob er die Republiken aus
Rachſucht ſchelte, und die Monarchie aus Schmeicheley
und geheimen Abſichten erhebe: Er hatte bey dieſer Ge-
legenheit zu erkennen gegeben, daß er entſchloſſen ſey,
nach Tarent uͤberzugehen, um in der ruhigen Dunkel-
heit des Privatſtandes, welchen er ſeiner Neigung nach
allen andern vorziehe, dem Nachforſchen der Wahrheit
und der Verbeſſerung ſeines Gemuͤths obzuliegen ‒‒ (Re-
densarten, die in unſern Tagen ſeltſam und laͤcherlich
klingen wuͤrden, aber damals ihre Bedeutung und Wuͤrde
noch nicht gaͤnzlich verlohren hatten.) Jedermann ta-
delte oder bedaurte dieſe Entſchlieſſung, und wuͤnſchte, daß
Dionys alles anwenden moͤchte, ihn davon zuruͤkzubrin-
gen. Niemalen hatte ſich die Neigung des Prinzen mit

den
M 4
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[183/0185] Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. dorbener Freyſtaaten und alle Vorzuͤge wolregierter Monarchien, in zwey contraſtirende Gemaͤhlde zuſam- mendraͤngte, das Gluͤk hatte, alle Stimmen davon zu tragen, alle Zuhoͤrer zu uͤberreden, und dem Redner eine Bewunderung zu zuziehen, welche den Stolz des eitelſten Sophiſten haͤtte ſaͤttigen koͤnnen. Jedermann war von einem Manne bezaubert, welcher ſo ſeltne Gaben mit einer ſo groſſen Denkungs-Art und mit ſo menſchenfreundlichen Geſinnungen vereinigte. Denn Agathon hatte nicht die Tyrannie, ſondern die Regie- rung eines Vaters angeprieſen, der ſeine Kinder wol erzieht und gluͤklich zu machen ſucht. Man ſagte ſich ſelbſt, was fuͤr goldene Tage Sicilien ſehen wuͤrde, wenn ein ſolcher Mann das Ruder fuͤhrte. Er hatte nicht vergeſſen, im Eingang ſeines Diſcurſes dem Ver- dacht vorzukommen, als ob er die Republiken aus Rachſucht ſchelte, und die Monarchie aus Schmeicheley und geheimen Abſichten erhebe: Er hatte bey dieſer Ge- legenheit zu erkennen gegeben, daß er entſchloſſen ſey, nach Tarent uͤberzugehen, um in der ruhigen Dunkel- heit des Privatſtandes, welchen er ſeiner Neigung nach allen andern vorziehe, dem Nachforſchen der Wahrheit und der Verbeſſerung ſeines Gemuͤths obzuliegen ‒‒ (Re- densarten, die in unſern Tagen ſeltſam und laͤcherlich klingen wuͤrden, aber damals ihre Bedeutung und Wuͤrde noch nicht gaͤnzlich verlohren hatten.) Jedermann ta- delte oder bedaurte dieſe Entſchlieſſung, und wuͤnſchte, daß Dionys alles anwenden moͤchte, ihn davon zuruͤkzubrin- gen. Niemalen hatte ſich die Neigung des Prinzen mit den M 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/185>, abgerufen am 23.11.2024.