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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, drittes Capitel.
serm Compendio steht -- sagt der Shakespearische Ham-
let zu seinem Schulfreunde, Horazio.

Das unbändigste Temperament kan auf die Weise,
wie es Dionysius angieng, endlich zu paaren getrieben
werden. Unsre Bacchanten fanden sich von der Unmäs-
sigkeit, womit sie eine so lange Zeit den Göttern der
Freude geopfert, und von der Wuth womit sie ihre
Orgyia beschlossen hatten, so erschöpft, daß sie genöthi-
get waren, aufzuhören, Jnsonderheit befand sich Dio-
nyß in einem Stande der Vernichtung, der ihm weder
Hofnung noch Begierden übrig ließ, jemals wieder eine
solche Rolle zu spielen. Zum ersten mal seit dem be-
rauschenden Augenblike, da er sich im Besiz der Gewalt,
allen seinen Leidenschaften den Zügel zu lassen sah, fühlte
er ein Leeres in sich, in welches er mit Grauen hinein-
schaute --- Zum ersten mal fühlte er sich geneigt, Re-
flexionen zu machen, wenn er das Vermögen dazu ge-
habt hätte. Aber er erfuhr, mit einem lebhaften Un-
willen über sich selbst und alle diejenigen, welche ihn zu
einem Thier zu machen geholfen hatten, daß er nichts
in sich habe, das er dem Ekel vor allen Vergnügun-
gen der Sinne, und der Langenweile, worinn er sich
verzehrte, entgegenstellen könnte. Alles was er indessen
sehr lebhaft fühlte, war dieses, daß er mitten unter
lauter Gegenständen, welche ihm seine scheinbare Grösse
und Glükseligkeit ankündigten, in dem Zustande worinn
er war, sich selbst gegen über eine sehr elende Figur
machte. Kurz, alle Fibern seines Wesens hatten so

sehr
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Neuntes Buch, drittes Capitel.
ſerm Compendio ſteht ‒‒ ſagt der Shakeſpeariſche Ham-
let zu ſeinem Schulfreunde, Horazio.

Das unbaͤndigſte Temperament kan auf die Weiſe,
wie es Dionyſius angieng, endlich zu paaren getrieben
werden. Unſre Bacchanten fanden ſich von der Unmaͤſ-
ſigkeit, womit ſie eine ſo lange Zeit den Goͤttern der
Freude geopfert, und von der Wuth womit ſie ihre
Orgyia beſchloſſen hatten, ſo erſchoͤpft, daß ſie genoͤthi-
get waren, aufzuhoͤren, Jnſonderheit befand ſich Dio-
nyß in einem Stande der Vernichtung, der ihm weder
Hofnung noch Begierden uͤbrig ließ, jemals wieder eine
ſolche Rolle zu ſpielen. Zum erſten mal ſeit dem be-
rauſchenden Augenblike, da er ſich im Beſiz der Gewalt,
allen ſeinen Leidenſchaften den Zuͤgel zu laſſen ſah, fuͤhlte
er ein Leeres in ſich, in welches er mit Grauen hinein-
ſchaute ‒‒‒ Zum erſten mal fuͤhlte er ſich geneigt, Re-
flexionen zu machen, wenn er das Vermoͤgen dazu ge-
habt haͤtte. Aber er erfuhr, mit einem lebhaften Un-
willen uͤber ſich ſelbſt und alle diejenigen, welche ihn zu
einem Thier zu machen geholfen hatten, daß er nichts
in ſich habe, das er dem Ekel vor allen Vergnuͤgun-
gen der Sinne, und der Langenweile, worinn er ſich
verzehrte, entgegenſtellen koͤnnte. Alles was er indeſſen
ſehr lebhaft fuͤhlte, war dieſes, daß er mitten unter
lauter Gegenſtaͤnden, welche ihm ſeine ſcheinbare Groͤſſe
und Gluͤkſeligkeit ankuͤndigten, in dem Zuſtande worinn
er war, ſich ſelbſt gegen uͤber eine ſehr elende Figur
machte. Kurz, alle Fibern ſeines Weſens hatten ſo

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[105/0107] Neuntes Buch, drittes Capitel. ſerm Compendio ſteht ‒‒ ſagt der Shakeſpeariſche Ham- let zu ſeinem Schulfreunde, Horazio. Das unbaͤndigſte Temperament kan auf die Weiſe, wie es Dionyſius angieng, endlich zu paaren getrieben werden. Unſre Bacchanten fanden ſich von der Unmaͤſ- ſigkeit, womit ſie eine ſo lange Zeit den Goͤttern der Freude geopfert, und von der Wuth womit ſie ihre Orgyia beſchloſſen hatten, ſo erſchoͤpft, daß ſie genoͤthi- get waren, aufzuhoͤren, Jnſonderheit befand ſich Dio- nyß in einem Stande der Vernichtung, der ihm weder Hofnung noch Begierden uͤbrig ließ, jemals wieder eine ſolche Rolle zu ſpielen. Zum erſten mal ſeit dem be- rauſchenden Augenblike, da er ſich im Beſiz der Gewalt, allen ſeinen Leidenſchaften den Zuͤgel zu laſſen ſah, fuͤhlte er ein Leeres in ſich, in welches er mit Grauen hinein- ſchaute ‒‒‒ Zum erſten mal fuͤhlte er ſich geneigt, Re- flexionen zu machen, wenn er das Vermoͤgen dazu ge- habt haͤtte. Aber er erfuhr, mit einem lebhaften Un- willen uͤber ſich ſelbſt und alle diejenigen, welche ihn zu einem Thier zu machen geholfen hatten, daß er nichts in ſich habe, das er dem Ekel vor allen Vergnuͤgun- gen der Sinne, und der Langenweile, worinn er ſich verzehrte, entgegenſtellen koͤnnte. Alles was er indeſſen ſehr lebhaft fuͤhlte, war dieſes, daß er mitten unter lauter Gegenſtaͤnden, welche ihm ſeine ſcheinbare Groͤſſe und Gluͤkſeligkeit ankuͤndigten, in dem Zuſtande worinn er war, ſich ſelbſt gegen uͤber eine ſehr elende Figur machte. Kurz, alle Fibern ſeines Weſens hatten ſo ſehr G 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/107>, abgerufen am 24.11.2024.