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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Erstes Buch, zehntes Capitel.
mit den Leidenschaften andrer Menschen, oder mit mei-
nen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß mei-
nes Daseyns einem undankbaren Volke aufzuopfern,
und unter der vergeblichen Bemühung, Thoren oder
Lasterhafte glüklich zu machen, selbst unglüklich zu seyn!
-- Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten
Zweifel des Mißvergnügens am besten. Es waren
Augenblike, Tage, lange Reyhen von Tagen, da ich
glüklich war, glüklich in den frohen Stunden, da mei-
ne Seele, vom Anblik der Natur begeistert, in tiefsinni-
gen Betrachtungen und süssen Ahnungen, wie in den
bezauberten Gärten der Hesperiden irrte; glüklich,
wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe,
aller Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß, und nun zu
verstehen glaubte, was die Wonne der Götter sey;
glüklicher, wenn in Augenbliken, deren Erinnerung
den bittersten Schmerz zu versüssen genug ist, mein
Geist in der grossen Betrachtung des Ewigen und Un-
begränzten sich verlor -- Ja du bist, alles beseelende,
alles regierende Güte -- ich sah, ich fühlte dich! Jch
empfand die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich
macht; ich genoß die Glükseligkeit, welche Tagen die
Schnelligkeit der Augenblike, und Augenbliken den Werth
von Jahrhunderten giebt. Die Macht der Empfin-
dung zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der ge-
nossenen Glükseligkeit heilet den gegenwärtigen Schmerz,
und verspricht eine bessere Zukunft. Alle diese allgemei-
ne Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen,

fliessen,
[Agath. I. Th.] C

Erſtes Buch, zehntes Capitel.
mit den Leidenſchaften andrer Menſchen, oder mit mei-
nen eigenen zu kaͤmpfen, mich ſelbſt und den Genuß mei-
nes Daſeyns einem undankbaren Volke aufzuopfern,
und unter der vergeblichen Bemuͤhung, Thoren oder
Laſterhafte gluͤklich zu machen, ſelbſt ungluͤklich zu ſeyn!
‒‒ Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten
Zweifel des Mißvergnuͤgens am beſten. Es waren
Augenblike, Tage, lange Reyhen von Tagen, da ich
gluͤklich war, gluͤklich in den frohen Stunden, da mei-
ne Seele, vom Anblik der Natur begeiſtert, in tiefſinni-
gen Betrachtungen und ſuͤſſen Ahnungen, wie in den
bezauberten Gaͤrten der Heſperiden irrte; gluͤklich,
wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe,
aller Beduͤrfniſſe, aller Wuͤnſche vergaß, und nun zu
verſtehen glaubte, was die Wonne der Goͤtter ſey;
gluͤklicher, wenn in Augenbliken, deren Erinnerung
den bitterſten Schmerz zu verſuͤſſen genug iſt, mein
Geiſt in der groſſen Betrachtung des Ewigen und Un-
begraͤnzten ſich verlor ‒‒ Ja du biſt, alles beſeelende,
alles regierende Guͤte ‒‒ ich ſah, ich fuͤhlte dich! Jch
empfand die Schoͤnheit der Tugend, die dir aͤhnlich
macht; ich genoß die Gluͤkſeligkeit, welche Tagen die
Schnelligkeit der Augenblike, und Augenbliken den Werth
von Jahrhunderten giebt. Die Macht der Empfin-
dung zerſtreut meine Zweifel; die Erinnerung der ge-
noſſenen Gluͤkſeligkeit heilet den gegenwaͤrtigen Schmerz,
und verſpricht eine beſſere Zukunft. Alle dieſe allgemei-
ne Quellen der Freude, woraus alle Weſen ſchoͤpfen,

flieſſen,
[Agath. I. Th.] C
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[33/0055] Erſtes Buch, zehntes Capitel. mit den Leidenſchaften andrer Menſchen, oder mit mei- nen eigenen zu kaͤmpfen, mich ſelbſt und den Genuß mei- nes Daſeyns einem undankbaren Volke aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemuͤhung, Thoren oder Laſterhafte gluͤklich zu machen, ſelbſt ungluͤklich zu ſeyn! ‒‒ Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des Mißvergnuͤgens am beſten. Es waren Augenblike, Tage, lange Reyhen von Tagen, da ich gluͤklich war, gluͤklich in den frohen Stunden, da mei- ne Seele, vom Anblik der Natur begeiſtert, in tiefſinni- gen Betrachtungen und ſuͤſſen Ahnungen, wie in den bezauberten Gaͤrten der Heſperiden irrte; gluͤklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe, aller Beduͤrfniſſe, aller Wuͤnſche vergaß, und nun zu verſtehen glaubte, was die Wonne der Goͤtter ſey; gluͤklicher, wenn in Augenbliken, deren Erinnerung den bitterſten Schmerz zu verſuͤſſen genug iſt, mein Geiſt in der groſſen Betrachtung des Ewigen und Un- begraͤnzten ſich verlor ‒‒ Ja du biſt, alles beſeelende, alles regierende Guͤte ‒‒ ich ſah, ich fuͤhlte dich! Jch empfand die Schoͤnheit der Tugend, die dir aͤhnlich macht; ich genoß die Gluͤkſeligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit der Augenblike, und Augenbliken den Werth von Jahrhunderten giebt. Die Macht der Empfin- dung zerſtreut meine Zweifel; die Erinnerung der ge- noſſenen Gluͤkſeligkeit heilet den gegenwaͤrtigen Schmerz, und verſpricht eine beſſere Zukunft. Alle dieſe allgemei- ne Quellen der Freude, woraus alle Weſen ſchoͤpfen, flieſſen, [Agath. I. Th.] C

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/55>, abgerufen am 22.11.2024.