Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch, neuntes Capitel.
flehte, er weinte. -- Aber umsonst. Der Seeräuber
hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte,
und die Syrenen selbst hätten ihn nicht bereden kön-
nen, seinen Entschluß zu ändern. Agathon erhielt
nicht einmal die Erlaubniß, von seinem geliebten Bru-
der Abschied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bey
diesem Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann ver-
dächtig gemacht. Er wurde also, von Schmerz und
Verzweiflung betäubt, in die Barke getragen, und be-
fand sich schon eine geraume Zeit ausser dem Gesichts-
kreis seiner Psyche, eh er wieder erwachte, um den gan-
zen Umfang seines Elends zu fühlen.

Zehntes Capitel.
Ein Selbstgespräch.

Da wir uns zum unverbrüchlichen Geseze gemacht
haben, in dieser Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden,
was gegen die historische Wahrheit derselben einigen ge-
rechten Verdacht erweken könnte; so würden wir uns
ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, wel-
ches wir hier in unserm Manuscript vor uns finden,
mitzutheilen, wenn nicht der ungenannte Verfasser die
Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine Er-
zählung sich in den meisten Umständen auf eine Art
von Tagebuch gründe, welches (sichern Anzeigen nach)
von der eignen Hand des Agathon sey, und wovon er

durch

Erſtes Buch, neuntes Capitel.
flehte, er weinte. ‒‒ Aber umſonſt. Der Seeraͤuber
hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte,
und die Syrenen ſelbſt haͤtten ihn nicht bereden koͤn-
nen, ſeinen Entſchluß zu aͤndern. Agathon erhielt
nicht einmal die Erlaubniß, von ſeinem geliebten Bru-
der Abſchied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bey
dieſem Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann ver-
daͤchtig gemacht. Er wurde alſo, von Schmerz und
Verzweiflung betaͤubt, in die Barke getragen, und be-
fand ſich ſchon eine geraume Zeit auſſer dem Geſichts-
kreis ſeiner Pſyche, eh er wieder erwachte, um den gan-
zen Umfang ſeines Elends zu fuͤhlen.

Zehntes Capitel.
Ein Selbſtgeſpraͤch.

Da wir uns zum unverbruͤchlichen Geſeze gemacht
haben, in dieſer Geſchichte alles ſorgfaͤltig zu vermeiden,
was gegen die hiſtoriſche Wahrheit derſelben einigen ge-
rechten Verdacht erweken koͤnnte; ſo wuͤrden wir uns
ein Bedenken gemacht haben, das Selbſtgeſpraͤch, wel-
ches wir hier in unſerm Manuſcript vor uns finden,
mitzutheilen, wenn nicht der ungenannte Verfaſſer die
Vorſicht gebraucht haͤtte uns zu melden, daß ſeine Er-
zaͤhlung ſich in den meiſten Umſtaͤnden auf eine Art
von Tagebuch gruͤnde, welches (ſichern Anzeigen nach)
von der eignen Hand des Agathon ſey, und wovon er

durch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0049" n="27"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Buch, neuntes Capitel.</hi></fw><lb/>
flehte, er weinte. &#x2012;&#x2012; Aber um&#x017F;on&#x017F;t. Der Seera&#x0364;uber<lb/>
hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte,<lb/>
und die Syrenen &#x017F;elb&#x017F;t ha&#x0364;tten ihn nicht bereden ko&#x0364;n-<lb/>
nen, &#x017F;einen Ent&#x017F;chluß zu a&#x0364;ndern. Agathon erhielt<lb/>
nicht einmal die Erlaubniß, von &#x017F;einem geliebten Bru-<lb/>
der Ab&#x017F;chied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bey<lb/>
die&#x017F;em Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann ver-<lb/>
da&#x0364;chtig gemacht. Er wurde al&#x017F;o, von Schmerz und<lb/>
Verzweiflung beta&#x0364;ubt, in die Barke getragen, und be-<lb/>
fand &#x017F;ich &#x017F;chon eine geraume Zeit au&#x017F;&#x017F;er dem Ge&#x017F;ichts-<lb/>
kreis &#x017F;einer P&#x017F;yche, eh er wieder erwachte, um den gan-<lb/>
zen Umfang &#x017F;eines Elends zu fu&#x0364;hlen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Zehntes Capitel.<lb/><hi rendition="#g">Ein Selb&#x017F;tge&#x017F;pra&#x0364;ch.</hi></hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>a wir uns zum unverbru&#x0364;chlichen Ge&#x017F;eze gemacht<lb/>
haben, in die&#x017F;er Ge&#x017F;chichte alles &#x017F;orgfa&#x0364;ltig zu vermeiden,<lb/>
was gegen die hi&#x017F;tori&#x017F;che Wahrheit der&#x017F;elben einigen ge-<lb/>
rechten Verdacht erweken ko&#x0364;nnte; &#x017F;o wu&#x0364;rden wir uns<lb/>
ein Bedenken gemacht haben, das Selb&#x017F;tge&#x017F;pra&#x0364;ch, wel-<lb/>
ches wir hier in un&#x017F;erm Manu&#x017F;cript vor uns finden,<lb/>
mitzutheilen, wenn nicht der ungenannte Verfa&#x017F;&#x017F;er die<lb/>
Vor&#x017F;icht gebraucht ha&#x0364;tte uns zu melden, daß &#x017F;eine Er-<lb/>
za&#x0364;hlung &#x017F;ich in den mei&#x017F;ten Um&#x017F;ta&#x0364;nden auf eine Art<lb/>
von Tagebuch gru&#x0364;nde, welches (&#x017F;ichern Anzeigen nach)<lb/>
von der eignen Hand des Agathon &#x017F;ey, und wovon er<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">durch</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0049] Erſtes Buch, neuntes Capitel. flehte, er weinte. ‒‒ Aber umſonſt. Der Seeraͤuber hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte, und die Syrenen ſelbſt haͤtten ihn nicht bereden koͤn- nen, ſeinen Entſchluß zu aͤndern. Agathon erhielt nicht einmal die Erlaubniß, von ſeinem geliebten Bru- der Abſchied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bey dieſem Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann ver- daͤchtig gemacht. Er wurde alſo, von Schmerz und Verzweiflung betaͤubt, in die Barke getragen, und be- fand ſich ſchon eine geraume Zeit auſſer dem Geſichts- kreis ſeiner Pſyche, eh er wieder erwachte, um den gan- zen Umfang ſeines Elends zu fuͤhlen. Zehntes Capitel. Ein Selbſtgeſpraͤch. Da wir uns zum unverbruͤchlichen Geſeze gemacht haben, in dieſer Geſchichte alles ſorgfaͤltig zu vermeiden, was gegen die hiſtoriſche Wahrheit derſelben einigen ge- rechten Verdacht erweken koͤnnte; ſo wuͤrden wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbſtgeſpraͤch, wel- ches wir hier in unſerm Manuſcript vor uns finden, mitzutheilen, wenn nicht der ungenannte Verfaſſer die Vorſicht gebraucht haͤtte uns zu melden, daß ſeine Er- zaͤhlung ſich in den meiſten Umſtaͤnden auf eine Art von Tagebuch gruͤnde, welches (ſichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon ſey, und wovon er durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/49
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/49>, abgerufen am 21.11.2024.