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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
weissere Zähne und sanftere Hände zu haben als Narcis-
sus. Er war der erste in der Kunst, sich in einem Au-
genblik zweymal auf einem Fuß herum zu drehen, einen
Fächer aufzuheben, oder ein Blumensträuschen an die
Stirne einer Dame zu steken. Bey solchen Vorzügen
glaubte er einen natürlichen Beruf zu haben, sich dem
weiblichen Geschlecht anzubieten. Die Leichtigkeit wo-
mit seine Verdienste über die zärtlichen Herzen der
Sträussermädchen gesiegt hatten, machte ihm Muth sich
an die Kammermädchen zu wagen, und von diesen
Nymphen er hob er sich endlich zu den Göttinnen selbst.
Ohne sich zu bekümmern, wie sein Herz aufgenommen
wurde, hatte er sich angewöhnt zu glauben, daß er un-
widerstehlich sey; und wenn er nicht allemal Proben
davon erhielt, so machte er sich dafür schadlos, indem
er sich der Gunstbezeugungen am meisten rühmte, die er
nicht genossen hatte. -- Wunderst du dich, Agathon,
woher ich so wol von ihm unterrichtet bin? Von ihm
selbst. Was meine Augen nicht an ihm entdekten, das
sagte mir sein Mund. Denn er selbst war der uner-
schöpfliche Jnnhalt seiner Gespräche, so wie der einzige
Gegenstand seiner Bewunderung. Ein Liebhaber von
dieser Art sollte dem Ansehen nach wenig zu bedeuten
haben. Eine Zeit lang belustigte mich seine Thorheit;
allein er wurde ungestüm. Er fand es unanständig,
daß eine Aufwärterin seiner Mutter unempfindlich ge-
gen ein Herz bleiben sollte, um welches die Sträusser-
Mädchen zu Athen einander beneidet hatten. Jch ward
endlich genöthiget, meine Zuflucht zu seiner Mutter zu

nehmen.

Agathon.
weiſſere Zaͤhne und ſanftere Haͤnde zu haben als Narciſ-
ſus. Er war der erſte in der Kunſt, ſich in einem Au-
genblik zweymal auf einem Fuß herum zu drehen, einen
Faͤcher aufzuheben, oder ein Blumenſtraͤuschen an die
Stirne einer Dame zu ſteken. Bey ſolchen Vorzuͤgen
glaubte er einen natuͤrlichen Beruf zu haben, ſich dem
weiblichen Geſchlecht anzubieten. Die Leichtigkeit wo-
mit ſeine Verdienſte uͤber die zaͤrtlichen Herzen der
Straͤuſſermaͤdchen geſiegt hatten, machte ihm Muth ſich
an die Kammermaͤdchen zu wagen, und von dieſen
Nymphen er hob er ſich endlich zu den Goͤttinnen ſelbſt.
Ohne ſich zu bekuͤmmern, wie ſein Herz aufgenommen
wurde, hatte er ſich angewoͤhnt zu glauben, daß er un-
widerſtehlich ſey; und wenn er nicht allemal Proben
davon erhielt, ſo machte er ſich dafuͤr ſchadlos, indem
er ſich der Gunſtbezeugungen am meiſten ruͤhmte, die er
nicht genoſſen hatte. ‒‒ Wunderſt du dich, Agathon,
woher ich ſo wol von ihm unterrichtet bin? Von ihm
ſelbſt. Was meine Augen nicht an ihm entdekten, das
ſagte mir ſein Mund. Denn er ſelbſt war der uner-
ſchoͤpfliche Jnnhalt ſeiner Geſpraͤche, ſo wie der einzige
Gegenſtand ſeiner Bewunderung. Ein Liebhaber von
dieſer Art ſollte dem Anſehen nach wenig zu bedeuten
haben. Eine Zeit lang beluſtigte mich ſeine Thorheit;
allein er wurde ungeſtuͤm. Er fand es unanſtaͤndig,
daß eine Aufwaͤrterin ſeiner Mutter unempfindlich ge-
gen ein Herz bleiben ſollte, um welches die Straͤuſſer-
Maͤdchen zu Athen einander beneidet hatten. Jch ward
endlich genoͤthiget, meine Zuflucht zu ſeiner Mutter zu

nehmen.
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[20/0042] Agathon. weiſſere Zaͤhne und ſanftere Haͤnde zu haben als Narciſ- ſus. Er war der erſte in der Kunſt, ſich in einem Au- genblik zweymal auf einem Fuß herum zu drehen, einen Faͤcher aufzuheben, oder ein Blumenſtraͤuschen an die Stirne einer Dame zu ſteken. Bey ſolchen Vorzuͤgen glaubte er einen natuͤrlichen Beruf zu haben, ſich dem weiblichen Geſchlecht anzubieten. Die Leichtigkeit wo- mit ſeine Verdienſte uͤber die zaͤrtlichen Herzen der Straͤuſſermaͤdchen geſiegt hatten, machte ihm Muth ſich an die Kammermaͤdchen zu wagen, und von dieſen Nymphen er hob er ſich endlich zu den Goͤttinnen ſelbſt. Ohne ſich zu bekuͤmmern, wie ſein Herz aufgenommen wurde, hatte er ſich angewoͤhnt zu glauben, daß er un- widerſtehlich ſey; und wenn er nicht allemal Proben davon erhielt, ſo machte er ſich dafuͤr ſchadlos, indem er ſich der Gunſtbezeugungen am meiſten ruͤhmte, die er nicht genoſſen hatte. ‒‒ Wunderſt du dich, Agathon, woher ich ſo wol von ihm unterrichtet bin? Von ihm ſelbſt. Was meine Augen nicht an ihm entdekten, das ſagte mir ſein Mund. Denn er ſelbſt war der uner- ſchoͤpfliche Jnnhalt ſeiner Geſpraͤche, ſo wie der einzige Gegenſtand ſeiner Bewunderung. Ein Liebhaber von dieſer Art ſollte dem Anſehen nach wenig zu bedeuten haben. Eine Zeit lang beluſtigte mich ſeine Thorheit; allein er wurde ungeſtuͤm. Er fand es unanſtaͤndig, daß eine Aufwaͤrterin ſeiner Mutter unempfindlich ge- gen ein Herz bleiben ſollte, um welches die Straͤuſſer- Maͤdchen zu Athen einander beneidet hatten. Jch ward endlich genoͤthiget, meine Zuflucht zu ſeiner Mutter zu nehmen.

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/42>, abgerufen am 27.11.2024.