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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
geben würde, die er verlohren zu haben schien. Die
Wiederkehr in die Stadt, wo sie einander nicht immer
sehen würden, wo ihre Liebe sich zu verbergen genö-
thigt seyn, und dadurch den Reiz eines geheimen Ver-
ständnisses erhalten würde, die Zerstreuungen des Stadt-
Lebens, die Gesellschaft, die Lustbarkeiten, würden
ihn (glaubte sie) bald genug wieder so feuerig als je-
mals wieder in ihre Arme führen. Sie überredete
ihn also, mit ihr nach Smyrna zurükzugehen, obgleich
die schöne Jahrs-Zeit noch nicht ganz zu Ende war.
Hier wußte sie, (ohne daß es schien, daß sie Hand
dabey habe,) eine Menge Gelegenheiten zu veranstal-
ten, wodurch sie einander seltner wurden; wenn sie
sich wieder allein befanden, flog sie ihm zwar eben so
zärtlich in die Arme, als ehemals; aber sie vermied
alles, was zu jener allzuwollüstigen Berauschung (in
welche sie ihn, wenn sie wollte, durch einen einzigen
Blik sezen konnte) geführt hätte, und that es mit ei-
ner so guten Art, daß er keinen besondern Vorsaz da-
bey gewahr werden konnte: Kurz, sie wußte die feu-
rigste Liebe unvermerkt so geschikt in die zärtlichste
Freundschaft zu verwandeln, daß Agathon, welcher
weder Kunst noch Absicht unter ihrem Betragen arg-
wohnte, ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in
kurzem wieder so zärtlich und dringend wurde, als ob
er erst anfangen müßte, sich um ihr Herz zu bewerben.
Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm diese Begei-
sterung mit allem ihrem zauberischen Gefolge wieder zu
geben, welche, wenn sie einmal verschwunden ist, nicht

wieder

Agathon.
geben wuͤrde, die er verlohren zu haben ſchien. Die
Wiederkehr in die Stadt, wo ſie einander nicht immer
ſehen wuͤrden, wo ihre Liebe ſich zu verbergen genoͤ-
thigt ſeyn, und dadurch den Reiz eines geheimen Ver-
ſtaͤndniſſes erhalten wuͤrde, die Zerſtreuungen des Stadt-
Lebens, die Geſellſchaft, die Luſtbarkeiten, wuͤrden
ihn (glaubte ſie) bald genug wieder ſo feuerig als je-
mals wieder in ihre Arme fuͤhren. Sie uͤberredete
ihn alſo, mit ihr nach Smyrna zuruͤkzugehen, obgleich
die ſchoͤne Jahrs-Zeit noch nicht ganz zu Ende war.
Hier wußte ſie, (ohne daß es ſchien, daß ſie Hand
dabey habe,) eine Menge Gelegenheiten zu veranſtal-
ten, wodurch ſie einander ſeltner wurden; wenn ſie
ſich wieder allein befanden, flog ſie ihm zwar eben ſo
zaͤrtlich in die Arme, als ehemals; aber ſie vermied
alles, was zu jener allzuwolluͤſtigen Berauſchung (in
welche ſie ihn, wenn ſie wollte, durch einen einzigen
Blik ſezen konnte) gefuͤhrt haͤtte, und that es mit ei-
ner ſo guten Art, daß er keinen beſondern Vorſaz da-
bey gewahr werden konnte: Kurz, ſie wußte die feu-
rigſte Liebe unvermerkt ſo geſchikt in die zaͤrtlichſte
Freundſchaft zu verwandeln, daß Agathon, welcher
weder Kunſt noch Abſicht unter ihrem Betragen arg-
wohnte, ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in
kurzem wieder ſo zaͤrtlich und dringend wurde, als ob
er erſt anfangen muͤßte, ſich um ihr Herz zu bewerben.
Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm dieſe Begei-
ſterung mit allem ihrem zauberiſchen Gefolge wieder zu
geben, welche, wenn ſie einmal verſchwunden iſt, nicht

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[390/0412] Agathon. geben wuͤrde, die er verlohren zu haben ſchien. Die Wiederkehr in die Stadt, wo ſie einander nicht immer ſehen wuͤrden, wo ihre Liebe ſich zu verbergen genoͤ- thigt ſeyn, und dadurch den Reiz eines geheimen Ver- ſtaͤndniſſes erhalten wuͤrde, die Zerſtreuungen des Stadt- Lebens, die Geſellſchaft, die Luſtbarkeiten, wuͤrden ihn (glaubte ſie) bald genug wieder ſo feuerig als je- mals wieder in ihre Arme fuͤhren. Sie uͤberredete ihn alſo, mit ihr nach Smyrna zuruͤkzugehen, obgleich die ſchoͤne Jahrs-Zeit noch nicht ganz zu Ende war. Hier wußte ſie, (ohne daß es ſchien, daß ſie Hand dabey habe,) eine Menge Gelegenheiten zu veranſtal- ten, wodurch ſie einander ſeltner wurden; wenn ſie ſich wieder allein befanden, flog ſie ihm zwar eben ſo zaͤrtlich in die Arme, als ehemals; aber ſie vermied alles, was zu jener allzuwolluͤſtigen Berauſchung (in welche ſie ihn, wenn ſie wollte, durch einen einzigen Blik ſezen konnte) gefuͤhrt haͤtte, und that es mit ei- ner ſo guten Art, daß er keinen beſondern Vorſaz da- bey gewahr werden konnte: Kurz, ſie wußte die feu- rigſte Liebe unvermerkt ſo geſchikt in die zaͤrtlichſte Freundſchaft zu verwandeln, daß Agathon, welcher weder Kunſt noch Abſicht unter ihrem Betragen arg- wohnte, ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in kurzem wieder ſo zaͤrtlich und dringend wurde, als ob er erſt anfangen muͤßte, ſich um ihr Herz zu bewerben. Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm dieſe Begei- ſterung mit allem ihrem zauberiſchen Gefolge wieder zu geben, welche, wenn ſie einmal verſchwunden iſt, nicht wieder

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/412>, abgerufen am 04.12.2024.