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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
die Liebe von allzuvieler Nahrung abzehrt; und daß
ein unvorsichtiges Uebermaß von Zärtlichkeit gerade
das gewisseste Mittel ist, einen Ungetreuen zu machen.
Wir wollen sie also auf die bemeldete Unterweisung ei-
nes der besten Kenner des menschlichen Herzens ver-
wiesen haben, und uns begnügen, ihnen zu sagen,
daß Agathon, nachdem er (dem neuen Plan seiner
mehr zärtlichen als behutsamen Geliebten zufolge) etli-
che Wochen lang von allem, was die Liebe süsses und
entzükendes hat, mehr erfahren hatte, als selbst die
glühende Einbildungs-Kraft des Marino fähig war,
seinen Adon in den Armen der Liebes-Göttin geniessen
zu lassen, unvermerkt in eine gewisse Mattigkeit der
Seele versiel, welche wir nicht kürzer zu beschreiben
wissen, als wenn wir sagen, daß sie vollkommen das
Widerspiel von der Begeisterung war, worinn wir ihn
bisher gesehen haben. Man würde sich vermuthlich
sehr irren, wenn man diese Entgeisterung einer so un-
edeln Ursache beymessen wollte, als diejenige war,
welche den verachtenswürdigen Helden des Petronius
nöthigte, seine Zuflucht zu den Beschwörungen und
Brenn-Nesseln der alten Enothea zu nehmen. Nach
allem, was wir von unserm Helden wissen, kan kein
Verdacht von dieser Art auf ihn fallen. Wir finden
weit wahrscheinlicher, daß die wahre Ursache davon
in seiner Seele lag, und aus einer Ueberfüllung mit
Vergnügen, auf welche nothwendig eine Art von Be-
täubung folgen mußte, ihren Ursprung nahm. Unsere
Seele (mit Erlaubniß derjenigen Philosophen, welche

von

Agathon.
die Liebe von allzuvieler Nahrung abzehrt; und daß
ein unvorſichtiges Uebermaß von Zaͤrtlichkeit gerade
das gewiſſeſte Mittel iſt, einen Ungetreuen zu machen.
Wir wollen ſie alſo auf die bemeldete Unterweiſung ei-
nes der beſten Kenner des menſchlichen Herzens ver-
wieſen haben, und uns begnuͤgen, ihnen zu ſagen,
daß Agathon, nachdem er (dem neuen Plan ſeiner
mehr zaͤrtlichen als behutſamen Geliebten zufolge) etli-
che Wochen lang von allem, was die Liebe ſuͤſſes und
entzuͤkendes hat, mehr erfahren hatte, als ſelbſt die
gluͤhende Einbildungs-Kraft des Marino faͤhig war,
ſeinen Adon in den Armen der Liebes-Goͤttin genieſſen
zu laſſen, unvermerkt in eine gewiſſe Mattigkeit der
Seele verſiel, welche wir nicht kuͤrzer zu beſchreiben
wiſſen, als wenn wir ſagen, daß ſie vollkommen das
Widerſpiel von der Begeiſterung war, worinn wir ihn
bisher geſehen haben. Man wuͤrde ſich vermuthlich
ſehr irren, wenn man dieſe Entgeiſterung einer ſo un-
edeln Urſache beymeſſen wollte, als diejenige war,
welche den verachtenswuͤrdigen Helden des Petronius
noͤthigte, ſeine Zuflucht zu den Beſchwoͤrungen und
Brenn-Neſſeln der alten Enothea zu nehmen. Nach
allem, was wir von unſerm Helden wiſſen, kan kein
Verdacht von dieſer Art auf ihn fallen. Wir finden
weit wahrſcheinlicher, daß die wahre Urſache davon
in ſeiner Seele lag, und aus einer Ueberfuͤllung mit
Vergnuͤgen, auf welche nothwendig eine Art von Be-
taͤubung folgen mußte, ihren Urſprung nahm. Unſere
Seele (mit Erlaubniß derjenigen Philoſophen, welche

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[386/0408] Agathon. die Liebe von allzuvieler Nahrung abzehrt; und daß ein unvorſichtiges Uebermaß von Zaͤrtlichkeit gerade das gewiſſeſte Mittel iſt, einen Ungetreuen zu machen. Wir wollen ſie alſo auf die bemeldete Unterweiſung ei- nes der beſten Kenner des menſchlichen Herzens ver- wieſen haben, und uns begnuͤgen, ihnen zu ſagen, daß Agathon, nachdem er (dem neuen Plan ſeiner mehr zaͤrtlichen als behutſamen Geliebten zufolge) etli- che Wochen lang von allem, was die Liebe ſuͤſſes und entzuͤkendes hat, mehr erfahren hatte, als ſelbſt die gluͤhende Einbildungs-Kraft des Marino faͤhig war, ſeinen Adon in den Armen der Liebes-Goͤttin genieſſen zu laſſen, unvermerkt in eine gewiſſe Mattigkeit der Seele verſiel, welche wir nicht kuͤrzer zu beſchreiben wiſſen, als wenn wir ſagen, daß ſie vollkommen das Widerſpiel von der Begeiſterung war, worinn wir ihn bisher geſehen haben. Man wuͤrde ſich vermuthlich ſehr irren, wenn man dieſe Entgeiſterung einer ſo un- edeln Urſache beymeſſen wollte, als diejenige war, welche den verachtenswuͤrdigen Helden des Petronius noͤthigte, ſeine Zuflucht zu den Beſchwoͤrungen und Brenn-Neſſeln der alten Enothea zu nehmen. Nach allem, was wir von unſerm Helden wiſſen, kan kein Verdacht von dieſer Art auf ihn fallen. Wir finden weit wahrſcheinlicher, daß die wahre Urſache davon in ſeiner Seele lag, und aus einer Ueberfuͤllung mit Vergnuͤgen, auf welche nothwendig eine Art von Be- taͤubung folgen mußte, ihren Urſprung nahm. Unſere Seele (mit Erlaubniß derjenigen Philoſophen, welche von

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/408>, abgerufen am 22.11.2024.