Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. das Leere war, welches die Beschäftigungen undselbst die Ergözungen meiner neuen Lebensart in meinem Herzen liessen. Die Schauspiele, die Gast- mäler, die Tänze, die Musikübungen, konnten mir jene seligen Nächte nicht ersezen, die ich in den Entzükungen einer zauberischen Schwärmerey, an ih- rer Seite zugebracht hatte. Aber, so groß auch meine Sehnsucht nach diesen verlohrnen Freuden war, so beunruhigte mich doch die Vorstellung des unglük- lichen Zustands noch weit mehr, worein die rachbegie- rige Eifersucht der Pythia sie vermuthlich versezt hatte. Den Ort ihres Aufenthalts ausfündig zu machen, schien beynahe eine Unmöglichkeit; denn entweder hat- te die Priesterin sie (fern genug von Delphi, um uns alle Hofnung des Wiedersehens zu benehmen,) verkau- fen, oder gar an irgend einer entlegnen barbarischen Küste aussezen und dem Zufall Preiß geben lassen. Allein da der Liebe nichts unmöglich ist, so gab ich auch die Hofnung nicht auf, meine Psyche wieder zu bekommen. Jch belud alle meine Freunde, alle Frem- den, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reisende und Seefahrer mit dem Auftrag, sich allenthalben, wohin sie kämen, nach ihr zu erkundigen; und damit sie weniger verfehlt werden könnte, ließ ich eine un- zählige Menge Copeyen ihres Bildnisses machen, das ich selbst, oder vielmehr der Gott der Liebe mit meiner Hand, in der oollkommensten Aehnlichkeit, nach dem gegen- wärtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in Delphi waren; und diese Copeyen theilte ich unter alle dieje-
Agathon. das Leere war, welches die Beſchaͤftigungen undſelbſt die Ergoͤzungen meiner neuen Lebensart in meinem Herzen lieſſen. Die Schauſpiele, die Gaſt- maͤler, die Taͤnze, die Muſikuͤbungen, konnten mir jene ſeligen Naͤchte nicht erſezen, die ich in den Entzuͤkungen einer zauberiſchen Schwaͤrmerey, an ih- rer Seite zugebracht hatte. Aber, ſo groß auch meine Sehnſucht nach dieſen verlohrnen Freuden war, ſo beunruhigte mich doch die Vorſtellung des ungluͤk- lichen Zuſtands noch weit mehr, worein die rachbegie- rige Eiferſucht der Pythia ſie vermuthlich verſezt hatte. Den Ort ihres Aufenthalts ausfuͤndig zu machen, ſchien beynahe eine Unmoͤglichkeit; denn entweder hat- te die Prieſterin ſie (fern genug von Delphi, um uns alle Hofnung des Wiederſehens zu benehmen,) verkau- fen, oder gar an irgend einer entlegnen barbariſchen Kuͤſte ausſezen und dem Zufall Preiß geben laſſen. Allein da der Liebe nichts unmoͤglich iſt, ſo gab ich auch die Hofnung nicht auf, meine Pſyche wieder zu bekommen. Jch belud alle meine Freunde, alle Frem- den, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reiſende und Seefahrer mit dem Auftrag, ſich allenthalben, wohin ſie kaͤmen, nach ihr zu erkundigen; und damit ſie weniger verfehlt werden koͤnnte, ließ ich eine un- zaͤhlige Menge Copeyen ihres Bildniſſes machen, das ich ſelbſt, oder vielmehr der Gott der Liebe mit meiner Hand, in der oollkommenſten Aehnlichkeit, nach dem gegen- waͤrtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in Delphi waren; und dieſe Copeyen theilte ich unter alle dieje-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0398" n="376"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon</hi>.</hi></fw><lb/> das Leere war, welches die Beſchaͤftigungen und<lb/> ſelbſt die Ergoͤzungen meiner neuen Lebensart in<lb/> meinem Herzen lieſſen. Die Schauſpiele, die Gaſt-<lb/> maͤler, die Taͤnze, die Muſikuͤbungen, konnten mir<lb/> jene ſeligen Naͤchte nicht erſezen, die ich in den<lb/> Entzuͤkungen einer zauberiſchen Schwaͤrmerey, an ih-<lb/> rer Seite zugebracht hatte. Aber, ſo groß auch<lb/> meine Sehnſucht nach dieſen verlohrnen Freuden war,<lb/> ſo beunruhigte mich doch die Vorſtellung des ungluͤk-<lb/> lichen Zuſtands noch weit mehr, worein die rachbegie-<lb/> rige Eiferſucht der Pythia ſie vermuthlich verſezt hatte.<lb/> Den Ort ihres Aufenthalts ausfuͤndig zu machen,<lb/> ſchien beynahe eine Unmoͤglichkeit; denn entweder hat-<lb/> te die Prieſterin ſie (fern genug von Delphi, um uns<lb/> alle Hofnung des Wiederſehens zu benehmen,) verkau-<lb/> fen, oder gar an irgend einer entlegnen barbariſchen<lb/> Kuͤſte ausſezen und dem Zufall Preiß geben laſſen.<lb/> Allein da der Liebe nichts unmoͤglich iſt, ſo gab ich<lb/> auch die Hofnung nicht auf, meine Pſyche wieder zu<lb/> bekommen. Jch belud alle meine Freunde, alle Frem-<lb/> den, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reiſende<lb/> und Seefahrer mit dem Auftrag, ſich allenthalben,<lb/> wohin ſie kaͤmen, nach ihr zu erkundigen; und damit<lb/> ſie weniger verfehlt werden koͤnnte, ließ ich eine un-<lb/> zaͤhlige Menge Copeyen ihres Bildniſſes machen, das ich<lb/> ſelbſt, oder vielmehr der Gott der Liebe mit meiner Hand,<lb/> in der oollkommenſten Aehnlichkeit, nach dem gegen-<lb/> waͤrtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in<lb/> Delphi waren; und dieſe Copeyen theilte ich unter alle<lb/> <fw place="bottom" type="catch">dieje-</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [376/0398]
Agathon.
das Leere war, welches die Beſchaͤftigungen und
ſelbſt die Ergoͤzungen meiner neuen Lebensart in
meinem Herzen lieſſen. Die Schauſpiele, die Gaſt-
maͤler, die Taͤnze, die Muſikuͤbungen, konnten mir
jene ſeligen Naͤchte nicht erſezen, die ich in den
Entzuͤkungen einer zauberiſchen Schwaͤrmerey, an ih-
rer Seite zugebracht hatte. Aber, ſo groß auch
meine Sehnſucht nach dieſen verlohrnen Freuden war,
ſo beunruhigte mich doch die Vorſtellung des ungluͤk-
lichen Zuſtands noch weit mehr, worein die rachbegie-
rige Eiferſucht der Pythia ſie vermuthlich verſezt hatte.
Den Ort ihres Aufenthalts ausfuͤndig zu machen,
ſchien beynahe eine Unmoͤglichkeit; denn entweder hat-
te die Prieſterin ſie (fern genug von Delphi, um uns
alle Hofnung des Wiederſehens zu benehmen,) verkau-
fen, oder gar an irgend einer entlegnen barbariſchen
Kuͤſte ausſezen und dem Zufall Preiß geben laſſen.
Allein da der Liebe nichts unmoͤglich iſt, ſo gab ich
auch die Hofnung nicht auf, meine Pſyche wieder zu
bekommen. Jch belud alle meine Freunde, alle Frem-
den, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reiſende
und Seefahrer mit dem Auftrag, ſich allenthalben,
wohin ſie kaͤmen, nach ihr zu erkundigen; und damit
ſie weniger verfehlt werden koͤnnte, ließ ich eine un-
zaͤhlige Menge Copeyen ihres Bildniſſes machen, das ich
ſelbſt, oder vielmehr der Gott der Liebe mit meiner Hand,
in der oollkommenſten Aehnlichkeit, nach dem gegen-
waͤrtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in
Delphi waren; und dieſe Copeyen theilte ich unter alle
dieje-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |