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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
Theil meiner Nächte wegnahmen, erfüllten mich mit
dem lebhaftesten Eifer für ein Vaterland, welches ich
nur aus Geschichtschreibern kannte; ich zeichnete mit
selbst, auf den Fußstapfen der Solons und Aristiden,
einen Weg aus, bey welchem ich an keine andere Hin-
ternisse dachte, als solche, die durch Muth und Tu-
gend zu überwinden sind. Dann sezte ich mich in mei-
nen patriotischen Entzükungen an das Ende meiner Lauf-
bahn, und sah in Alhen, nichts geringers als die
Hauptstadt der Welt, die Gesezgeberin der Nationen,
die Mutter den Wissenschaften und Künste, die Köni-
gin des Meers, den Mittelpunct der Vereinigung des
ganzen menschlichen Geschlechts. - - Kurz, ich mach-
te ungefehr eben so schimärische, und eben so ungeheure
Projecte, als Alcibiades; aber mit dem wesentlichen
Unterscheid, daß ein von Güte und allgemeiner Wol-
thätigkeit beseeltes Herz die Quelle der meinigen war.
Sie hatten noch dieses Besondere, daß ihre Ausfüh-
rung, (die moralische Möglichkeit derselben vorausge-
sezt,) keiner Mutter eine Thräne, und keinem Menschen
in der Welt mehr, als die Aufopferung seiner Vorur-
theile, und solcher Leidenschaften, welche die Ursachen
alles Privat-Elends sind, gekostet hätten. Jhre Aus-
führung schien mir, weil ich mir die Hinternisse nur
einzeln, und nicht in ihrem Zusammenhang und verei-
nigtem Gewichte vorstellte, so leicht zu seyn, daß ich
nur allein darüber verwundert war, daß ein Perikles
unter den kleinfügigen Bemühungen Athen zur Meiste-
rin von Griechenland zu machen, habe übersehen kön-

nen,

Agathon.
Theil meiner Naͤchte wegnahmen, erfuͤllten mich mit
dem lebhafteſten Eifer fuͤr ein Vaterland, welches ich
nur aus Geſchichtſchreibern kannte; ich zeichnete mit
ſelbſt, auf den Fußſtapfen der Solons und Ariſtiden,
einen Weg aus, bey welchem ich an keine andere Hin-
terniſſe dachte, als ſolche, die durch Muth und Tu-
gend zu uͤberwinden ſind. Dann ſezte ich mich in mei-
nen patriotiſchen Entzuͤkungen an das Ende meiner Lauf-
bahn, und ſah in Alhen, nichts geringers als die
Hauptſtadt der Welt, die Geſezgeberin der Nationen,
die Mutter den Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die Koͤni-
gin des Meers, den Mittelpunct der Vereinigung des
ganzen menſchlichen Geſchlechts. ‒ ‒ Kurz, ich mach-
te ungefehr eben ſo ſchimaͤriſche, und eben ſo ungeheure
Projecte, als Alcibiades; aber mit dem weſentlichen
Unterſcheid, daß ein von Guͤte und allgemeiner Wol-
thaͤtigkeit beſeeltes Herz die Quelle der meinigen war.
Sie hatten noch dieſes Beſondere, daß ihre Ausfuͤh-
rung, (die moraliſche Moͤglichkeit derſelben vorausge-
ſezt,) keiner Mutter eine Thraͤne, und keinem Menſchen
in der Welt mehr, als die Aufopferung ſeiner Vorur-
theile, und ſolcher Leidenſchaften, welche die Urſachen
alles Privat-Elends ſind, gekoſtet haͤtten. Jhre Aus-
fuͤhrung ſchien mir, weil ich mir die Hinterniſſe nur
einzeln, und nicht in ihrem Zuſammenhang und verei-
nigtem Gewichte vorſtellte, ſo leicht zu ſeyn, daß ich
nur allein daruͤber verwundert war, daß ein Perikles
unter den kleinfuͤgigen Bemuͤhungen Athen zur Meiſte-
rin von Griechenland zu machen, habe uͤberſehen koͤn-

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[328/0350] Agathon. Theil meiner Naͤchte wegnahmen, erfuͤllten mich mit dem lebhafteſten Eifer fuͤr ein Vaterland, welches ich nur aus Geſchichtſchreibern kannte; ich zeichnete mit ſelbſt, auf den Fußſtapfen der Solons und Ariſtiden, einen Weg aus, bey welchem ich an keine andere Hin- terniſſe dachte, als ſolche, die durch Muth und Tu- gend zu uͤberwinden ſind. Dann ſezte ich mich in mei- nen patriotiſchen Entzuͤkungen an das Ende meiner Lauf- bahn, und ſah in Alhen, nichts geringers als die Hauptſtadt der Welt, die Geſezgeberin der Nationen, die Mutter den Wiſſenſchaften und Kuͤnſte, die Koͤni- gin des Meers, den Mittelpunct der Vereinigung des ganzen menſchlichen Geſchlechts. ‒ ‒ Kurz, ich mach- te ungefehr eben ſo ſchimaͤriſche, und eben ſo ungeheure Projecte, als Alcibiades; aber mit dem weſentlichen Unterſcheid, daß ein von Guͤte und allgemeiner Wol- thaͤtigkeit beſeeltes Herz die Quelle der meinigen war. Sie hatten noch dieſes Beſondere, daß ihre Ausfuͤh- rung, (die moraliſche Moͤglichkeit derſelben vorausge- ſezt,) keiner Mutter eine Thraͤne, und keinem Menſchen in der Welt mehr, als die Aufopferung ſeiner Vorur- theile, und ſolcher Leidenſchaften, welche die Urſachen alles Privat-Elends ſind, gekoſtet haͤtten. Jhre Aus- fuͤhrung ſchien mir, weil ich mir die Hinterniſſe nur einzeln, und nicht in ihrem Zuſammenhang und verei- nigtem Gewichte vorſtellte, ſo leicht zu ſeyn, daß ich nur allein daruͤber verwundert war, daß ein Perikles unter den kleinfuͤgigen Bemuͤhungen Athen zur Meiſte- rin von Griechenland zu machen, habe uͤberſehen koͤn- nen,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/350>, abgerufen am 22.11.2024.