Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
ken; er wandte alles an, seine Einwilligung zu erhal-
ten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und alle
Tugenden der jungen Musarion für keinen genugsamen
Ersaz des Reichthums, der ihr fehlte, ansah, blieb
unerbittlich. Stratonicus liebte zu inbrünstig, um dem
Befehl, nicht weiter an seine Geliebte zu denken, gehor-
sam zu seyn; er würde sich selbst für den Unwürdigsten
unter den Menschen gehalten haben, wenn er fähig
gewesen wäre, ihr nur das Wenigste von seinen Em-
pfindungen zu entziehen. Die Widerwärtigkeiten und
Hinternisse, womit seine Liebe kämpfen mußte, thaten
vielmehr die Würkung, welche sie in einem solchen Falle
bey edeln und wahrhaftig eingenommenen Gemüthern
allemal thun werden; sie concentrierten das Feuer ihrer
gegenseitigen Zuneigung, und bliesen eine Flamme,
welche, so lange sie von Hoffnung genährt wurde, drey
Jahre lang sanft und rein fortgebrannt hatte, zu der
heftigsten Leidenschaft an. Das Herz ermüdet endlich
durch den langen Kampf mit seinen süssesten Regungen;
es verliehrt die Kraft zu widerstehen; und je länger
es unter den Quaalen einer zugleich verfolgten und un-
befriedigten Liebe geseufzet hat, je heftiger sehnet es
sich nach einer Glükseligkeit, wovon ein einziger Augen-
genblik genugsam ist, das Andenken aller ausgestandenen
Leiden auszulöschen, das Gefühl der gegenwärtigen zu
erstiken, und die Augen, von der süssen Trunkenheit
der glüklichen Liebe benebelt, gegen alle künftige Noth
blind zu machen. Ausser diesem hatte Musarion noch
den Beweg-Grund einer Daukbarkeit, von deren drü-

kender

Agathon.
ken; er wandte alles an, ſeine Einwilligung zu erhal-
ten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und alle
Tugenden der jungen Muſarion fuͤr keinen genugſamen
Erſaz des Reichthums, der ihr fehlte, anſah, blieb
unerbittlich. Stratonicus liebte zu inbruͤnſtig, um dem
Befehl, nicht weiter an ſeine Geliebte zu denken, gehor-
ſam zu ſeyn; er wuͤrde ſich ſelbſt fuͤr den Unwuͤrdigſten
unter den Menſchen gehalten haben, wenn er faͤhig
geweſen waͤre, ihr nur das Wenigſte von ſeinen Em-
pfindungen zu entziehen. Die Widerwaͤrtigkeiten und
Hinterniſſe, womit ſeine Liebe kaͤmpfen mußte, thaten
vielmehr die Wuͤrkung, welche ſie in einem ſolchen Falle
bey edeln und wahrhaftig eingenommenen Gemuͤthern
allemal thun werden; ſie concentrierten das Feuer ihrer
gegenſeitigen Zuneigung, und blieſen eine Flamme,
welche, ſo lange ſie von Hoffnung genaͤhrt wurde, drey
Jahre lang ſanft und rein fortgebrannt hatte, zu der
heftigſten Leidenſchaft an. Das Herz ermuͤdet endlich
durch den langen Kampf mit ſeinen ſuͤſſeſten Regungen;
es verliehrt die Kraft zu widerſtehen; und je laͤnger
es unter den Quaalen einer zugleich verfolgten und un-
befriedigten Liebe geſeufzet hat, je heftiger ſehnet es
ſich nach einer Gluͤkſeligkeit, wovon ein einziger Augen-
genblik genugſam iſt, das Andenken aller ausgeſtandenen
Leiden auszuloͤſchen, das Gefuͤhl der gegenwaͤrtigen zu
erſtiken, und die Augen, von der ſuͤſſen Trunkenheit
der gluͤklichen Liebe benebelt, gegen alle kuͤnftige Noth
blind zu machen. Auſſer dieſem hatte Muſarion noch
den Beweg-Grund einer Daukbarkeit, von deren druͤ-

kender
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0346" n="324"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
ken; er wandte alles an, &#x017F;eine Einwilligung zu erhal-<lb/>
ten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und alle<lb/>
Tugenden der jungen Mu&#x017F;arion fu&#x0364;r keinen genug&#x017F;amen<lb/>
Er&#x017F;az des Reichthums, der ihr fehlte, an&#x017F;ah, blieb<lb/>
unerbittlich. Stratonicus liebte zu inbru&#x0364;n&#x017F;tig, um dem<lb/>
Befehl, nicht weiter an &#x017F;eine Geliebte zu denken, gehor-<lb/>
&#x017F;am zu &#x017F;eyn; er wu&#x0364;rde &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t fu&#x0364;r den Unwu&#x0364;rdig&#x017F;ten<lb/>
unter den Men&#x017F;chen gehalten haben, wenn er fa&#x0364;hig<lb/>
gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, ihr nur das Wenig&#x017F;te von &#x017F;einen Em-<lb/>
pfindungen zu entziehen. Die Widerwa&#x0364;rtigkeiten und<lb/>
Hinterni&#x017F;&#x017F;e, womit &#x017F;eine Liebe ka&#x0364;mpfen mußte, thaten<lb/>
vielmehr die Wu&#x0364;rkung, welche &#x017F;ie in einem &#x017F;olchen Falle<lb/>
bey edeln und wahrhaftig eingenommenen Gemu&#x0364;thern<lb/>
allemal thun werden; &#x017F;ie concentrierten das Feuer ihrer<lb/>
gegen&#x017F;eitigen Zuneigung, und blie&#x017F;en eine Flamme,<lb/>
welche, &#x017F;o lange &#x017F;ie von Hoffnung gena&#x0364;hrt wurde, drey<lb/>
Jahre lang &#x017F;anft und rein fortgebrannt hatte, zu der<lb/>
heftig&#x017F;ten Leiden&#x017F;chaft an. Das Herz ermu&#x0364;det endlich<lb/>
durch den langen Kampf mit &#x017F;einen &#x017F;u&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten Regungen;<lb/>
es verliehrt die Kraft zu wider&#x017F;tehen; und je la&#x0364;nger<lb/>
es unter den Quaalen einer zugleich verfolgten und un-<lb/>
befriedigten Liebe ge&#x017F;eufzet hat, je heftiger &#x017F;ehnet es<lb/>
&#x017F;ich nach einer Glu&#x0364;k&#x017F;eligkeit, wovon ein einziger Augen-<lb/>
genblik genug&#x017F;am i&#x017F;t, das Andenken aller ausge&#x017F;tandenen<lb/>
Leiden auszulo&#x0364;&#x017F;chen, das Gefu&#x0364;hl der gegenwa&#x0364;rtigen zu<lb/>
er&#x017F;tiken, und die Augen, von der &#x017F;u&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Trunkenheit<lb/>
der glu&#x0364;klichen Liebe benebelt, gegen alle ku&#x0364;nftige Noth<lb/>
blind zu machen. Au&#x017F;&#x017F;er die&#x017F;em hatte Mu&#x017F;arion noch<lb/>
den Beweg-Grund einer Daukbarkeit, von deren dru&#x0364;-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">kender</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0346] Agathon. ken; er wandte alles an, ſeine Einwilligung zu erhal- ten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und alle Tugenden der jungen Muſarion fuͤr keinen genugſamen Erſaz des Reichthums, der ihr fehlte, anſah, blieb unerbittlich. Stratonicus liebte zu inbruͤnſtig, um dem Befehl, nicht weiter an ſeine Geliebte zu denken, gehor- ſam zu ſeyn; er wuͤrde ſich ſelbſt fuͤr den Unwuͤrdigſten unter den Menſchen gehalten haben, wenn er faͤhig geweſen waͤre, ihr nur das Wenigſte von ſeinen Em- pfindungen zu entziehen. Die Widerwaͤrtigkeiten und Hinterniſſe, womit ſeine Liebe kaͤmpfen mußte, thaten vielmehr die Wuͤrkung, welche ſie in einem ſolchen Falle bey edeln und wahrhaftig eingenommenen Gemuͤthern allemal thun werden; ſie concentrierten das Feuer ihrer gegenſeitigen Zuneigung, und blieſen eine Flamme, welche, ſo lange ſie von Hoffnung genaͤhrt wurde, drey Jahre lang ſanft und rein fortgebrannt hatte, zu der heftigſten Leidenſchaft an. Das Herz ermuͤdet endlich durch den langen Kampf mit ſeinen ſuͤſſeſten Regungen; es verliehrt die Kraft zu widerſtehen; und je laͤnger es unter den Quaalen einer zugleich verfolgten und un- befriedigten Liebe geſeufzet hat, je heftiger ſehnet es ſich nach einer Gluͤkſeligkeit, wovon ein einziger Augen- genblik genugſam iſt, das Andenken aller ausgeſtandenen Leiden auszuloͤſchen, das Gefuͤhl der gegenwaͤrtigen zu erſtiken, und die Augen, von der ſuͤſſen Trunkenheit der gluͤklichen Liebe benebelt, gegen alle kuͤnftige Noth blind zu machen. Auſſer dieſem hatte Muſarion noch den Beweg-Grund einer Daukbarkeit, von deren druͤ- kender

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/346
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/346>, abgerufen am 23.11.2024.