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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, fünftes Capitel.
können; aber nichts ist auch in den Augen der Welt
zweydeutiger, als die Freygebigkeit eines jungen Men-
schen gegen eine junge Person, welche das Unglük hat,
durch ihre Annehmlichkeiten den Neid, und durch ihre
Armuth die Verachtung des grossen Hauffens zu erre-
gen. Man kan sich nicht bereden, daß in einem sol-
chen Fall derjenige, welcher giebt, nicht eigennüzige
Absichten habe; oder diejenige, welche annihmt, ihre
Dankbarkeit nicht auf Unkosten ihrer Unschuld beweise.
Stratonicus gebrauchte deswegen die äusserste Vorsich-
tigkeit, um die Wolthaten, womit er diese kleine Familie
von Zeit zu Zeit unterstüzte, vor aller Welt und vor ihnen
selbst zu verbergen. Allein sie entdekten doch zulezt ih-
ren unbekannten Wolthäter; und diese neue Proben sei-
ner edelmüthigen Sinnes-Art vollendeten den Eindruk,
den er schon lange auf das unerfahrne Herz der zärtli-
chen Musarion gemacht hatte, und gewannen es ihm
gänzlich. Niemals würde die Liebe von der zärtlich-
sten Gegenliebe erwiedert, zwey Herzen glüklicher ge-
macht haben, wenn die Umstände der jungen Schönen
einer gesezmässigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in
den Weg gelegt hätten, welche ein jeder anderer als
ein Liebhaber für unüberwindlich gehalten hätte. End-
lich war Stratonicus so glüklich, zu entdeken, daß seine
Geliebte würklich eine Atheniensische Bürgerin sey, die
Tochter eines zwar armen, aber rechtschaffenen Man-
nes, welcher im Pelopponesischen Kriege sein Leben auf
eine rühmliche Art verlohren hatte. Nunmehr wagte
er es, seinem Vater das Geheimniß seiner Liebe zu entde-

ken;
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Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel.
koͤnnen; aber nichts iſt auch in den Augen der Welt
zweydeutiger, als die Freygebigkeit eines jungen Men-
ſchen gegen eine junge Perſon, welche das Ungluͤk hat,
durch ihre Annehmlichkeiten den Neid, und durch ihre
Armuth die Verachtung des groſſen Hauffens zu erre-
gen. Man kan ſich nicht bereden, daß in einem ſol-
chen Fall derjenige, welcher giebt, nicht eigennuͤzige
Abſichten habe; oder diejenige, welche annihmt, ihre
Dankbarkeit nicht auf Unkoſten ihrer Unſchuld beweiſe.
Stratonicus gebrauchte deswegen die aͤuſſerſte Vorſich-
tigkeit, um die Wolthaten, womit er dieſe kleine Familie
von Zeit zu Zeit unterſtuͤzte, vor aller Welt und vor ihnen
ſelbſt zu verbergen. Allein ſie entdekten doch zulezt ih-
ren unbekannten Wolthaͤter; und dieſe neue Proben ſei-
ner edelmuͤthigen Sinnes-Art vollendeten den Eindruk,
den er ſchon lange auf das unerfahrne Herz der zaͤrtli-
chen Muſarion gemacht hatte, und gewannen es ihm
gaͤnzlich. Niemals wuͤrde die Liebe von der zaͤrtlich-
ſten Gegenliebe erwiedert, zwey Herzen gluͤklicher ge-
macht haben, wenn die Umſtaͤnde der jungen Schoͤnen
einer geſezmaͤſſigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in
den Weg gelegt haͤtten, welche ein jeder anderer als
ein Liebhaber fuͤr unuͤberwindlich gehalten haͤtte. End-
lich war Stratonicus ſo gluͤklich, zu entdeken, daß ſeine
Geliebte wuͤrklich eine Athenienſiſche Buͤrgerin ſey, die
Tochter eines zwar armen, aber rechtſchaffenen Man-
nes, welcher im Pelopponeſiſchen Kriege ſein Leben auf
eine ruͤhmliche Art verlohren hatte. Nunmehr wagte
er es, ſeinem Vater das Geheimniß ſeiner Liebe zu entde-

ken;
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[323/0345] Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. koͤnnen; aber nichts iſt auch in den Augen der Welt zweydeutiger, als die Freygebigkeit eines jungen Men- ſchen gegen eine junge Perſon, welche das Ungluͤk hat, durch ihre Annehmlichkeiten den Neid, und durch ihre Armuth die Verachtung des groſſen Hauffens zu erre- gen. Man kan ſich nicht bereden, daß in einem ſol- chen Fall derjenige, welcher giebt, nicht eigennuͤzige Abſichten habe; oder diejenige, welche annihmt, ihre Dankbarkeit nicht auf Unkoſten ihrer Unſchuld beweiſe. Stratonicus gebrauchte deswegen die aͤuſſerſte Vorſich- tigkeit, um die Wolthaten, womit er dieſe kleine Familie von Zeit zu Zeit unterſtuͤzte, vor aller Welt und vor ihnen ſelbſt zu verbergen. Allein ſie entdekten doch zulezt ih- ren unbekannten Wolthaͤter; und dieſe neue Proben ſei- ner edelmuͤthigen Sinnes-Art vollendeten den Eindruk, den er ſchon lange auf das unerfahrne Herz der zaͤrtli- chen Muſarion gemacht hatte, und gewannen es ihm gaͤnzlich. Niemals wuͤrde die Liebe von der zaͤrtlich- ſten Gegenliebe erwiedert, zwey Herzen gluͤklicher ge- macht haben, wenn die Umſtaͤnde der jungen Schoͤnen einer geſezmaͤſſigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt haͤtten, welche ein jeder anderer als ein Liebhaber fuͤr unuͤberwindlich gehalten haͤtte. End- lich war Stratonicus ſo gluͤklich, zu entdeken, daß ſeine Geliebte wuͤrklich eine Athenienſiſche Buͤrgerin ſey, die Tochter eines zwar armen, aber rechtſchaffenen Man- nes, welcher im Pelopponeſiſchen Kriege ſein Leben auf eine ruͤhmliche Art verlohren hatte. Nunmehr wagte er es, ſeinem Vater das Geheimniß ſeiner Liebe zu entde- ken; X 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/345>, abgerufen am 23.11.2024.