Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
gen zu reden, schien sich aber wieder anders zu beden-
ken, und ersuchte mich nur, ihm zu sagen, warum
ich Delphi verlassen hätte. So natürlich die Aufrich-
tigkeit sonst meinem Herzen war, so konnte ich doch dieses
mal unmöglich über die Bedenklichkeiten hinaus kom-
men, welche mir über meine Liebe zu Psyche den Mund
verschlossen. Einem Freunde von meinen Jahren, für
den ich mein Herz eben so eingenommen gefunden hät-
te, als für den Stratonicus, würde ich das Jnnerste
meines Herzens ohne Bedenken aufgeschlossen haben,
so bald ich hätte vermuthen können, daß er meine
Empfindungen zu verstehen fähig sey: Aber hier hielt
mich etwas zurük, davon ich mir selbst die Ursache
nicht recht angeben konnte. Jch schob also die ganze
Schuld meiner Entweichung von Delphi auf die Py-
thia, indem ich ihm so ausführlich, als es meine ju-
gendliche Schaamhaftigkeit gestatten wollte, von den
Versuchungen, in welche sie meine Tugend geführt hat-
te, Nachricht gab. Er schien sehr wohl mit meiner auf-
führung zufrieden, und nachdem ich meine Erzählung
biß auf den Augenblik, wo ich ihn zuerst erblikt, und
dasjenige was ich sogleich für ihn empfunden, fortge-
führt; stund er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf
seine Arme um meinen Hals, und sagte mit Thränen
der Freude und Zärtlichkeit in seinen Augen: --
Mein liebster Agathon, siehe deinen Vater -- hier,
sezte er hinzu, indem er mich sanft umwendete, und
auf das Gemählde wieß, welchem ich bisher den Rüken
zugekehrt hatte, -- hier, in diesem Bilde, erken-

ne

Agathon.
gen zu reden, ſchien ſich aber wieder anders zu beden-
ken, und erſuchte mich nur, ihm zu ſagen, warum
ich Delphi verlaſſen haͤtte. So natuͤrlich die Aufrich-
tigkeit ſonſt meinem Herzen war, ſo konnte ich doch dieſes
mal unmoͤglich uͤber die Bedenklichkeiten hinaus kom-
men, welche mir uͤber meine Liebe zu Pſyche den Mund
verſchloſſen. Einem Freunde von meinen Jahren, fuͤr
den ich mein Herz eben ſo eingenommen gefunden haͤt-
te, als fuͤr den Stratonicus, wuͤrde ich das Jnnerſte
meines Herzens ohne Bedenken aufgeſchloſſen haben,
ſo bald ich haͤtte vermuthen koͤnnen, daß er meine
Empfindungen zu verſtehen faͤhig ſey: Aber hier hielt
mich etwas zuruͤk, davon ich mir ſelbſt die Urſache
nicht recht angeben konnte. Jch ſchob alſo die ganze
Schuld meiner Entweichung von Delphi auf die Py-
thia, indem ich ihm ſo ausfuͤhrlich, als es meine ju-
gendliche Schaamhaftigkeit geſtatten wollte, von den
Verſuchungen, in welche ſie meine Tugend gefuͤhrt hat-
te, Nachricht gab. Er ſchien ſehr wohl mit meiner auf-
fuͤhrung zufrieden, und nachdem ich meine Erzaͤhlung
biß auf den Augenblik, wo ich ihn zuerſt erblikt, und
dasjenige was ich ſogleich fuͤr ihn empfunden, fortge-
fuͤhrt; ſtund er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf
ſeine Arme um meinen Hals, und ſagte mit Thraͤnen
der Freude und Zaͤrtlichkeit in ſeinen Augen: —
Mein liebſter Agathon, ſiehe deinen Vater — hier,
ſezte er hinzu, indem er mich ſanft umwendete, und
auf das Gemaͤhlde wieß, welchem ich bisher den Ruͤken
zugekehrt hatte, — hier, in dieſem Bilde, erken-

ne
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0342" n="320"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
gen zu reden, &#x017F;chien &#x017F;ich aber wieder anders zu beden-<lb/>
ken, und er&#x017F;uchte mich nur, ihm zu &#x017F;agen, warum<lb/>
ich Delphi verla&#x017F;&#x017F;en ha&#x0364;tte. So natu&#x0364;rlich die Aufrich-<lb/>
tigkeit &#x017F;on&#x017F;t meinem Herzen war, &#x017F;o konnte ich doch die&#x017F;es<lb/>
mal unmo&#x0364;glich u&#x0364;ber die Bedenklichkeiten hinaus kom-<lb/>
men, welche mir u&#x0364;ber meine Liebe zu P&#x017F;yche den Mund<lb/>
ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Einem Freunde von meinen Jahren, fu&#x0364;r<lb/>
den ich mein Herz eben &#x017F;o eingenommen gefunden ha&#x0364;t-<lb/>
te, als fu&#x0364;r den Stratonicus, wu&#x0364;rde ich das Jnner&#x017F;te<lb/>
meines Herzens ohne Bedenken aufge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en haben,<lb/>
&#x017F;o bald ich ha&#x0364;tte vermuthen ko&#x0364;nnen, daß er meine<lb/>
Empfindungen zu ver&#x017F;tehen fa&#x0364;hig &#x017F;ey: Aber hier hielt<lb/>
mich etwas zuru&#x0364;k, davon ich mir &#x017F;elb&#x017F;t die Ur&#x017F;ache<lb/>
nicht recht angeben konnte. Jch &#x017F;chob al&#x017F;o die ganze<lb/>
Schuld meiner Entweichung von Delphi auf die Py-<lb/>
thia, indem ich ihm &#x017F;o ausfu&#x0364;hrlich, als es meine ju-<lb/>
gendliche Schaamhaftigkeit ge&#x017F;tatten wollte, von den<lb/>
Ver&#x017F;uchungen, in welche &#x017F;ie meine Tugend gefu&#x0364;hrt hat-<lb/>
te, Nachricht gab. Er &#x017F;chien &#x017F;ehr wohl mit meiner auf-<lb/>
fu&#x0364;hrung zufrieden, und nachdem ich meine Erza&#x0364;hlung<lb/>
biß auf den Augenblik, wo ich ihn zuer&#x017F;t erblikt, und<lb/>
dasjenige was ich &#x017F;ogleich fu&#x0364;r ihn empfunden, fortge-<lb/>
fu&#x0364;hrt; &#x017F;tund er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf<lb/>
&#x017F;eine Arme um meinen Hals, und &#x017F;agte mit Thra&#x0364;nen<lb/>
der Freude und Za&#x0364;rtlichkeit in &#x017F;einen Augen: &#x2014;<lb/>
Mein lieb&#x017F;ter Agathon, &#x017F;iehe deinen Vater &#x2014; hier,<lb/>
&#x017F;ezte er hinzu, indem er mich &#x017F;anft umwendete, und<lb/>
auf das Gema&#x0364;hlde wieß, welchem ich bisher den Ru&#x0364;ken<lb/>
zugekehrt hatte, &#x2014; hier, in die&#x017F;em Bilde, erken-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ne</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0342] Agathon. gen zu reden, ſchien ſich aber wieder anders zu beden- ken, und erſuchte mich nur, ihm zu ſagen, warum ich Delphi verlaſſen haͤtte. So natuͤrlich die Aufrich- tigkeit ſonſt meinem Herzen war, ſo konnte ich doch dieſes mal unmoͤglich uͤber die Bedenklichkeiten hinaus kom- men, welche mir uͤber meine Liebe zu Pſyche den Mund verſchloſſen. Einem Freunde von meinen Jahren, fuͤr den ich mein Herz eben ſo eingenommen gefunden haͤt- te, als fuͤr den Stratonicus, wuͤrde ich das Jnnerſte meines Herzens ohne Bedenken aufgeſchloſſen haben, ſo bald ich haͤtte vermuthen koͤnnen, daß er meine Empfindungen zu verſtehen faͤhig ſey: Aber hier hielt mich etwas zuruͤk, davon ich mir ſelbſt die Urſache nicht recht angeben konnte. Jch ſchob alſo die ganze Schuld meiner Entweichung von Delphi auf die Py- thia, indem ich ihm ſo ausfuͤhrlich, als es meine ju- gendliche Schaamhaftigkeit geſtatten wollte, von den Verſuchungen, in welche ſie meine Tugend gefuͤhrt hat- te, Nachricht gab. Er ſchien ſehr wohl mit meiner auf- fuͤhrung zufrieden, und nachdem ich meine Erzaͤhlung biß auf den Augenblik, wo ich ihn zuerſt erblikt, und dasjenige was ich ſogleich fuͤr ihn empfunden, fortge- fuͤhrt; ſtund er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf ſeine Arme um meinen Hals, und ſagte mit Thraͤnen der Freude und Zaͤrtlichkeit in ſeinen Augen: — Mein liebſter Agathon, ſiehe deinen Vater — hier, ſezte er hinzu, indem er mich ſanft umwendete, und auf das Gemaͤhlde wieß, welchem ich bisher den Ruͤken zugekehrt hatte, — hier, in dieſem Bilde, erken- ne

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/342
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/342>, abgerufen am 23.11.2024.