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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, fünftes Capitel.
der mich gegen dich zog nicht wiederstehen können; und
du hast in diesen wenigen Stunden meine voreilige Nei-
gung so sehr gerechfertiget, daß ich mir selbst Glük
wünsche, ihr Gehör gegeben zu haben. Befriedige al-
so mein Verlangen, und sey versichert, daß die Hof-
nung, dir vielleicht nüzlich seyn zu können, weit mehr
Antheil daran hat, als ein unbescheidener Vorwiz. Du
siehest einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet
der kurzen Dauer unsrer Bekanntschaft, mit allem Zu-
trauen eines langwierigen und bewährten Umgangs ent-
deken darfst. Jch wurde durch diese Anrede so sehr ge-
rührt, daß sich meine Augen mit Trähnen füllten --
ich glaube, daß er darinn lesen konnte was ihm mein
Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte
finden konnte. Endlich sagte ich ihm, daß ich von
Delphi käme; daß ich daselbst erzogen worden; daß
man mich Agathon genennt hätte; daß ich niemalen
habe entdeken können, wem ich das Leben zu danken
habe; und daß alles was ich davon wisse, dieses sey,
daß ich in einem Alter von vier oder fünf Jahren in
den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche
man dem Dienst des Gottes zu Delphi gewidmet, er-
zogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren gekom-
men, von den Priestern mit einer vorzüglichen Achtung
angesehen, und in allem was zur Erziehung eines frey-
gebohrnen Griechen erfordert werde, geübet worden
sey. Stratonicus (so wurde mein Wirth genannt)
hatte während daß ich dieses sagte, Mühe sich ruhig zu
halten; sein Gesicht veränderte sich; er wollte anfan-

gen

Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel.
der mich gegen dich zog nicht wiederſtehen koͤnnen; und
du haſt in dieſen wenigen Stunden meine voreilige Nei-
gung ſo ſehr gerechfertiget, daß ich mir ſelbſt Gluͤk
wuͤnſche, ihr Gehoͤr gegeben zu haben. Befriedige al-
ſo mein Verlangen, und ſey verſichert, daß die Hof-
nung, dir vielleicht nuͤzlich ſeyn zu koͤnnen, weit mehr
Antheil daran hat, als ein unbeſcheidener Vorwiz. Du
ſieheſt einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet
der kurzen Dauer unſrer Bekanntſchaft, mit allem Zu-
trauen eines langwierigen und bewaͤhrten Umgangs ent-
deken darfſt. Jch wurde durch dieſe Anrede ſo ſehr ge-
ruͤhrt, daß ſich meine Augen mit Traͤhnen fuͤllten —
ich glaube, daß er darinn leſen konnte was ihm mein
Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte
finden konnte. Endlich ſagte ich ihm, daß ich von
Delphi kaͤme; daß ich daſelbſt erzogen worden; daß
man mich Agathon genennt haͤtte; daß ich niemalen
habe entdeken koͤnnen, wem ich das Leben zu danken
habe; und daß alles was ich davon wiſſe, dieſes ſey,
daß ich in einem Alter von vier oder fuͤnf Jahren in
den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche
man dem Dienſt des Gottes zu Delphi gewidmet, er-
zogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren gekom-
men, von den Prieſtern mit einer vorzuͤglichen Achtung
angeſehen, und in allem was zur Erziehung eines frey-
gebohrnen Griechen erfordert werde, geuͤbet worden
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[319/0341] Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. der mich gegen dich zog nicht wiederſtehen koͤnnen; und du haſt in dieſen wenigen Stunden meine voreilige Nei- gung ſo ſehr gerechfertiget, daß ich mir ſelbſt Gluͤk wuͤnſche, ihr Gehoͤr gegeben zu haben. Befriedige al- ſo mein Verlangen, und ſey verſichert, daß die Hof- nung, dir vielleicht nuͤzlich ſeyn zu koͤnnen, weit mehr Antheil daran hat, als ein unbeſcheidener Vorwiz. Du ſieheſt einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet der kurzen Dauer unſrer Bekanntſchaft, mit allem Zu- trauen eines langwierigen und bewaͤhrten Umgangs ent- deken darfſt. Jch wurde durch dieſe Anrede ſo ſehr ge- ruͤhrt, daß ſich meine Augen mit Traͤhnen fuͤllten — ich glaube, daß er darinn leſen konnte was ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte finden konnte. Endlich ſagte ich ihm, daß ich von Delphi kaͤme; daß ich daſelbſt erzogen worden; daß man mich Agathon genennt haͤtte; daß ich niemalen habe entdeken koͤnnen, wem ich das Leben zu danken habe; und daß alles was ich davon wiſſe, dieſes ſey, daß ich in einem Alter von vier oder fuͤnf Jahren in den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche man dem Dienſt des Gottes zu Delphi gewidmet, er- zogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren gekom- men, von den Prieſtern mit einer vorzuͤglichen Achtung angeſehen, und in allem was zur Erziehung eines frey- gebohrnen Griechen erfordert werde, geuͤbet worden ſey. Stratonicus (ſo wurde mein Wirth genannt) hatte waͤhrend daß ich dieſes ſagte, Muͤhe ſich ruhig zu halten; ſein Geſicht veraͤnderte ſich; er wollte anfan- gen

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/341>, abgerufen am 25.08.2024.