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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
sezen, welches mir alle Sehnen lähmte, meinen Jrr-
thum erkannte; so machte die Gewalt, die ich anwen-
den wollte, mich von der rasenden Priesterin loszureissen,
daß wir mit einander zu Boden fanken. Jch wünschte
aus Hochschäzung des Geschlechts, welches in meinen
Augen der liebenswürdigste Theil der Schöpfung ist,
daß ich diese Scene aus meinem Gedächtniß auslöschen
könnte. -- Die Bestrebungen dieser Unglükseligen
empörten endlich alle meine Geister zu einem Grimm,
der mich ihrer eigenen Wuth überlegen machte. Jch
hatte alle meine Vernunft nöthig, um nicht alle Ach-
tung, die ich wenigstens ihrem Geschlecht schuldig war,
aus den Augen zu sezen. Aber ich zweifle nicht, daß
eine jede Frauens-Person, welche noch einen Funken
von sittlichem Gefühl übrig hätte, lieber den Tod, als
die Vorwürfe und die Verwünschungen, womit sie über-
strömt wurde, ausstehen wollte. Sie krümmete sich,
in Thränen berstend zu meinen Füssen. -- Dieser
Anblik war mir unerträglich -- ich wollte entflie-
hen; sie verfolgte mich, sie hieng sich an, und bat
mich, ihr den Tod zu geben. Jch verlangte mit Hef-
tigkeit, daß sie mir meine Psyche wieder geben sollte.
Diese Worte schienen sie unsinnig zu machen. Sie er-
klärte mir, daß das Leben dieser Sclavin in ihrer
Gewalt sey, und von dem Entschluß, den ich nehmen
würde, abhange. Sie sah die Veränderung, die diese
Drohung auf einmal in meinem ganzen Wesen machte;
wir verstummten beyde eine Weile. Endlich nahm sie
einen sanftern, aber nicht weniger entschlossenen Ton

an,

Agathon.
ſezen, welches mir alle Sehnen laͤhmte, meinen Jrr-
thum erkannte; ſo machte die Gewalt, die ich anwen-
den wollte, mich von der raſenden Prieſterin loszureiſſen,
daß wir mit einander zu Boden fanken. Jch wuͤnſchte
aus Hochſchaͤzung des Geſchlechts, welches in meinen
Augen der liebenswuͤrdigſte Theil der Schoͤpfung iſt,
daß ich dieſe Scene aus meinem Gedaͤchtniß ausloͤſchen
koͤnnte. — Die Beſtrebungen dieſer Ungluͤkſeligen
empoͤrten endlich alle meine Geiſter zu einem Grimm,
der mich ihrer eigenen Wuth uͤberlegen machte. Jch
hatte alle meine Vernunft noͤthig, um nicht alle Ach-
tung, die ich wenigſtens ihrem Geſchlecht ſchuldig war,
aus den Augen zu ſezen. Aber ich zweifle nicht, daß
eine jede Frauens-Perſon, welche noch einen Funken
von ſittlichem Gefuͤhl uͤbrig haͤtte, lieber den Tod, als
die Vorwuͤrfe und die Verwuͤnſchungen, womit ſie uͤber-
ſtroͤmt wurde, ausſtehen wollte. Sie kruͤmmete ſich,
in Thraͤnen berſtend zu meinen Fuͤſſen. — Dieſer
Anblik war mir unertraͤglich — ich wollte entflie-
hen; ſie verfolgte mich, ſie hieng ſich an, und bat
mich, ihr den Tod zu geben. Jch verlangte mit Hef-
tigkeit, daß ſie mir meine Pſyche wieder geben ſollte.
Dieſe Worte ſchienen ſie unſinnig zu machen. Sie er-
klaͤrte mir, daß das Leben dieſer Sclavin in ihrer
Gewalt ſey, und von dem Entſchluß, den ich nehmen
wuͤrde, abhange. Sie ſah die Veraͤnderung, die dieſe
Drohung auf einmal in meinem ganzen Weſen machte;
wir verſtummten beyde eine Weile. Endlich nahm ſie
einen ſanftern, aber nicht weniger entſchloſſenen Ton

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[310/0332] Agathon. ſezen, welches mir alle Sehnen laͤhmte, meinen Jrr- thum erkannte; ſo machte die Gewalt, die ich anwen- den wollte, mich von der raſenden Prieſterin loszureiſſen, daß wir mit einander zu Boden fanken. Jch wuͤnſchte aus Hochſchaͤzung des Geſchlechts, welches in meinen Augen der liebenswuͤrdigſte Theil der Schoͤpfung iſt, daß ich dieſe Scene aus meinem Gedaͤchtniß ausloͤſchen koͤnnte. — Die Beſtrebungen dieſer Ungluͤkſeligen empoͤrten endlich alle meine Geiſter zu einem Grimm, der mich ihrer eigenen Wuth uͤberlegen machte. Jch hatte alle meine Vernunft noͤthig, um nicht alle Ach- tung, die ich wenigſtens ihrem Geſchlecht ſchuldig war, aus den Augen zu ſezen. Aber ich zweifle nicht, daß eine jede Frauens-Perſon, welche noch einen Funken von ſittlichem Gefuͤhl uͤbrig haͤtte, lieber den Tod, als die Vorwuͤrfe und die Verwuͤnſchungen, womit ſie uͤber- ſtroͤmt wurde, ausſtehen wollte. Sie kruͤmmete ſich, in Thraͤnen berſtend zu meinen Fuͤſſen. — Dieſer Anblik war mir unertraͤglich — ich wollte entflie- hen; ſie verfolgte mich, ſie hieng ſich an, und bat mich, ihr den Tod zu geben. Jch verlangte mit Hef- tigkeit, daß ſie mir meine Pſyche wieder geben ſollte. Dieſe Worte ſchienen ſie unſinnig zu machen. Sie er- klaͤrte mir, daß das Leben dieſer Sclavin in ihrer Gewalt ſey, und von dem Entſchluß, den ich nehmen wuͤrde, abhange. Sie ſah die Veraͤnderung, die dieſe Drohung auf einmal in meinem ganzen Weſen machte; wir verſtummten beyde eine Weile. Endlich nahm ſie einen ſanftern, aber nicht weniger entſchloſſenen Ton an,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/332>, abgerufen am 24.11.2024.