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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, viertes Capitel.
mand beobachtet zu seyn glaubte, die zärtlichsten Blike
auf mich heftete. Jch war zu gutherzig, Verstellung
unter diesen Zeichen der wiederkehrenden Liebe zu arg-
wohnen; und der Schluß, den ich daraus zog, be-
ruhigte mich gänzlich über die Besorgniß, daß sie mei-
nen Umgang mit Psyche entdekt haben möchte. Jch
flog mit ungedultiger Freude zu unserer abgeredeten Zu-
sammenkunft; ich wartete so lange, daß mich der Tag
beynahe überrascht hätte; ich durchsuchte den ganzen
Hayn: aber da war keine Psyche. Eben so gieng es
in der folgenden und dritten Nacht. Mein Schmerz
und meine Betrachtungen waren unaussprechlich. Da-
mals erfuhr ich zum ersten mal, daß meine Einbildungs-
Kraft, welche bisher nur zu meinem Vergnügen geschäf-
tig war, in eben dem Maasse, wie sie mich glüklich ge-
macht hatte, mich elend zu machen fähig sey. Jch
zweifelte nun nicht mehr, daß die Priesterin unsere
Liebe entdekt habe; und die Folgen, welche dieser Um-
stand für Psyche haben konnte, stellten sich mir mit al-
len Schreknissen einer sich selbst quälenden Einbildung
dar. Jch faßte in der Wuth meines Schmerzens tau-
send heftige Entschliessungen, von denen immer eine die
andere verschlang; ich wollte zu der Priesterin gehen,
und meine Psyche von ihr fodern -- ich wollte --
das Ausschweiffendste, was man in der Verzweiflung
wollen kan; ich glaube, daß ich fähig gewesen wäre,
den Tempel anzuzünden, wenn ich hätte hoffen können,
meine Psyche dadurch zu retten. Und doch hielt mich
ein Schatten von Hoffnung, daß sie durch zufällige Ur-

sachen
U 2

Siebentes Buch, viertes Capitel.
mand beobachtet zu ſeyn glaubte, die zaͤrtlichſten Blike
auf mich heftete. Jch war zu gutherzig, Verſtellung
unter dieſen Zeichen der wiederkehrenden Liebe zu arg-
wohnen; und der Schluß, den ich daraus zog, be-
ruhigte mich gaͤnzlich uͤber die Beſorgniß, daß ſie mei-
nen Umgang mit Pſyche entdekt haben moͤchte. Jch
flog mit ungedultiger Freude zu unſerer abgeredeten Zu-
ſammenkunft; ich wartete ſo lange, daß mich der Tag
beynahe uͤberraſcht haͤtte; ich durchſuchte den ganzen
Hayn: aber da war keine Pſyche. Eben ſo gieng es
in der folgenden und dritten Nacht. Mein Schmerz
und meine Betrachtungen waren unausſprechlich. Da-
mals erfuhr ich zum erſten mal, daß meine Einbildungs-
Kraft, welche bisher nur zu meinem Vergnuͤgen geſchaͤf-
tig war, in eben dem Maaſſe, wie ſie mich gluͤklich ge-
macht hatte, mich elend zu machen faͤhig ſey. Jch
zweifelte nun nicht mehr, daß die Prieſterin unſere
Liebe entdekt habe; und die Folgen, welche dieſer Um-
ſtand fuͤr Pſyche haben konnte, ſtellten ſich mir mit al-
len Schrekniſſen einer ſich ſelbſt quaͤlenden Einbildung
dar. Jch faßte in der Wuth meines Schmerzens tau-
ſend heftige Entſchlieſſungen, von denen immer eine die
andere verſchlang; ich wollte zu der Prieſterin gehen,
und meine Pſyche von ihr fodern — ich wollte —
das Ausſchweiffendſte, was man in der Verzweiflung
wollen kan; ich glaube, daß ich faͤhig geweſen waͤre,
den Tempel anzuzuͤnden, wenn ich haͤtte hoffen koͤnnen,
meine Pſyche dadurch zu retten. Und doch hielt mich
ein Schatten von Hoffnung, daß ſie durch zufaͤllige Ur-

ſachen
U 2
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[307/0329] Siebentes Buch, viertes Capitel. mand beobachtet zu ſeyn glaubte, die zaͤrtlichſten Blike auf mich heftete. Jch war zu gutherzig, Verſtellung unter dieſen Zeichen der wiederkehrenden Liebe zu arg- wohnen; und der Schluß, den ich daraus zog, be- ruhigte mich gaͤnzlich uͤber die Beſorgniß, daß ſie mei- nen Umgang mit Pſyche entdekt haben moͤchte. Jch flog mit ungedultiger Freude zu unſerer abgeredeten Zu- ſammenkunft; ich wartete ſo lange, daß mich der Tag beynahe uͤberraſcht haͤtte; ich durchſuchte den ganzen Hayn: aber da war keine Pſyche. Eben ſo gieng es in der folgenden und dritten Nacht. Mein Schmerz und meine Betrachtungen waren unausſprechlich. Da- mals erfuhr ich zum erſten mal, daß meine Einbildungs- Kraft, welche bisher nur zu meinem Vergnuͤgen geſchaͤf- tig war, in eben dem Maaſſe, wie ſie mich gluͤklich ge- macht hatte, mich elend zu machen faͤhig ſey. Jch zweifelte nun nicht mehr, daß die Prieſterin unſere Liebe entdekt habe; und die Folgen, welche dieſer Um- ſtand fuͤr Pſyche haben konnte, ſtellten ſich mir mit al- len Schrekniſſen einer ſich ſelbſt quaͤlenden Einbildung dar. Jch faßte in der Wuth meines Schmerzens tau- ſend heftige Entſchlieſſungen, von denen immer eine die andere verſchlang; ich wollte zu der Prieſterin gehen, und meine Pſyche von ihr fodern — ich wollte — das Ausſchweiffendſte, was man in der Verzweiflung wollen kan; ich glaube, daß ich faͤhig geweſen waͤre, den Tempel anzuzuͤnden, wenn ich haͤtte hoffen koͤnnen, meine Pſyche dadurch zu retten. Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung, daß ſie durch zufaͤllige Ur- ſachen U 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/329>, abgerufen am 24.11.2024.