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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
uns nur die schöne Pythia so viel Zeit, als dazu er-
fodert wurde, gelassen hätte. Diese Dame hatte etli-
che Wochen verstreichen lassen, ohne (dem Ansehen
nach) sich meiner zu erinnern; und ich hatte sie in die-
ser Zeit so gänzlich vergessen, daß ich ganz betroffen
war, als ich wieder zu ihr beruffen wurde. Jch fand
gar bald, daß die Göttin von Paphos, welche sich
vielleicht wegen irgend einer ehemaligen Beleidigung an
ihr zu rächen beschlossen, sie in dieser Zwischen-Zeit
nicht so ruhig gelassen hatte, als es für sie und mich
zu wünschen war. Vermuthlich hatte sie (wie die tra-
gische Phädra) allen ihren weiblichen und priesterlichen
Stolz zusammengeraft, um eine Leidenschaft zu unter-
drüken, deren Uebelstand sie sich selbst unmöglich verber-
gen konnte; allein eben so vermuthlich mochte sie sich
selbst durch die tröstlichen Trug-Schlüsse, welche Euri-
pides der Amme dieser unglükseligen Princessin in den
Mund legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaf-
ten Entschluß gefaßt haben, ihrem Verhängniß nachzu-
geben. Denn, nachdem sie alle ihre Mühe, mich das,
was sie mir zu sagen hatte, errathen zu lassen, verloh-
ren sah, brach sie endlich ein Stillschweigen, dessen
Bedeutung ich eben so wenig verstehen wollte, und ent-
dekte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer,
welche mich erröthen und erzittern machten, daß sie
liebe und wieder geliebt seyn wolle. Der reizende Anzug
und die verführische Stellung, worinn sie dieses Geständ-
niß machte, schien ausgewählt zu seyn, mich den Werth
des mir angebottenen Glükes mehr als jemals empfin-

den

Agathon.
uns nur die ſchoͤne Pythia ſo viel Zeit, als dazu er-
fodert wurde, gelaſſen haͤtte. Dieſe Dame hatte etli-
che Wochen verſtreichen laſſen, ohne (dem Anſehen
nach) ſich meiner zu erinnern; und ich hatte ſie in die-
ſer Zeit ſo gaͤnzlich vergeſſen, daß ich ganz betroffen
war, als ich wieder zu ihr beruffen wurde. Jch fand
gar bald, daß die Goͤttin von Paphos, welche ſich
vielleicht wegen irgend einer ehemaligen Beleidigung an
ihr zu raͤchen beſchloſſen, ſie in dieſer Zwiſchen-Zeit
nicht ſo ruhig gelaſſen hatte, als es fuͤr ſie und mich
zu wuͤnſchen war. Vermuthlich hatte ſie (wie die tra-
giſche Phaͤdra) allen ihren weiblichen und prieſterlichen
Stolz zuſammengeraft, um eine Leidenſchaft zu unter-
druͤken, deren Uebelſtand ſie ſich ſelbſt unmoͤglich verber-
gen konnte; allein eben ſo vermuthlich mochte ſie ſich
ſelbſt durch die troͤſtlichen Trug-Schluͤſſe, welche Euri-
pides der Amme dieſer ungluͤkſeligen Princeſſin in den
Mund legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaf-
ten Entſchluß gefaßt haben, ihrem Verhaͤngniß nachzu-
geben. Denn, nachdem ſie alle ihre Muͤhe, mich das,
was ſie mir zu ſagen hatte, errathen zu laſſen, verloh-
ren ſah, brach ſie endlich ein Stillſchweigen, deſſen
Bedeutung ich eben ſo wenig verſtehen wollte, und ent-
dekte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer,
welche mich erroͤthen und erzittern machten, daß ſie
liebe und wieder geliebt ſeyn wolle. Der reizende Anzug
und die verfuͤhriſche Stellung, worinn ſie dieſes Geſtaͤnd-
niß machte, ſchien ausgewaͤhlt zu ſeyn, mich den Werth
des mir angebottenen Gluͤkes mehr als jemals empfin-

den
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[304/0326] Agathon. uns nur die ſchoͤne Pythia ſo viel Zeit, als dazu er- fodert wurde, gelaſſen haͤtte. Dieſe Dame hatte etli- che Wochen verſtreichen laſſen, ohne (dem Anſehen nach) ſich meiner zu erinnern; und ich hatte ſie in die- ſer Zeit ſo gaͤnzlich vergeſſen, daß ich ganz betroffen war, als ich wieder zu ihr beruffen wurde. Jch fand gar bald, daß die Goͤttin von Paphos, welche ſich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen Beleidigung an ihr zu raͤchen beſchloſſen, ſie in dieſer Zwiſchen-Zeit nicht ſo ruhig gelaſſen hatte, als es fuͤr ſie und mich zu wuͤnſchen war. Vermuthlich hatte ſie (wie die tra- giſche Phaͤdra) allen ihren weiblichen und prieſterlichen Stolz zuſammengeraft, um eine Leidenſchaft zu unter- druͤken, deren Uebelſtand ſie ſich ſelbſt unmoͤglich verber- gen konnte; allein eben ſo vermuthlich mochte ſie ſich ſelbſt durch die troͤſtlichen Trug-Schluͤſſe, welche Euri- pides der Amme dieſer ungluͤkſeligen Princeſſin in den Mund legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaf- ten Entſchluß gefaßt haben, ihrem Verhaͤngniß nachzu- geben. Denn, nachdem ſie alle ihre Muͤhe, mich das, was ſie mir zu ſagen hatte, errathen zu laſſen, verloh- ren ſah, brach ſie endlich ein Stillſchweigen, deſſen Bedeutung ich eben ſo wenig verſtehen wollte, und ent- dekte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer, welche mich erroͤthen und erzittern machten, daß ſie liebe und wieder geliebt ſeyn wolle. Der reizende Anzug und die verfuͤhriſche Stellung, worinn ſie dieſes Geſtaͤnd- niß machte, ſchien ausgewaͤhlt zu ſeyn, mich den Werth des mir angebottenen Gluͤkes mehr als jemals empfin- den

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/326>, abgerufen am 24.11.2024.